Der Zimnitzgeist
Komm mit mir und laß uns von Ischl aus zwischen Wiesen und Feldern
nach Kreutern wandern. Und sind wir erst einmal in Kreutern, dann ist's
nicht mehr weit in die Zimnitzwildnis. Damit aber sind wir im Reich des
Zimnitzgeistes angelangt.
Wenn man durch das enge Tal eine kleine Weile emporgestiegen ist, kommt
man rechtsseitig zu einer hohen Steilwand, auf der nur da und dort etliche
Grasbüschel und verkümmerte Sträucher mühselig ihr
Leben hinbringen. Im unteren Teil der Felsenmauer sieht man eine tiefe,
dunkle Öffnung, in der seit mehreren Jahren eine Marienstatue thront.
Wir stehen vor "Maria im Schlüsselloch" und vor der Sagenreichen
"Trefferwand"! Denn innerhalb der Trefferwand thront der mächtige
Zimnitzgeist in märchenhaft ausgestatteten Gemächern. Er ist
der Herr der ganzen Gegend und des Zimnitzberges. Das geheimnisvolle "Schlüsselloch"
in der Felswand bildet die Pforte zum Besitztum des Geistes. Doch lauern
hinter dem Schlüsselloch drei scharfe Hunde, die jeden Eindringling
sofort anfallen und durch ihr wütendes Gebell den Bergfürsten
herbeirufen. Wehe dann dem unerwünschten Schätzesucher - er
sieht das Tageslicht nimmer wieder!
Wie berichtet wird, kann der Zimnitzgeist aber auch gar gut und barmherzig
sein!
Vor vielen, vielen Jahren lebte in Kreutern eine Kriegerwitwe mit ihrem
einzigen Töchterlein, der lieben, braven Gertraud. In friedlicher
Arbeit vergingen ihnen die Tage und sie wünschten sich nichts anderes,
als immer so beisammensein zu dürfen.
Aber eines Tages wurde die Mutter krank; und diese schleichende Krankheit
fand kein Ende und es stand von Woche zu Woche schlechter um die arme
Witwe. Da wußte Gertraud nicht, was sie vor Kummer und Sorge beginnen
sollte, bis ihr eine mitleidige Nachbarin den Rat gab, den Zimnitzgeist
um Hilfe zu bitten - der habe Lebensblumen, die der Mutter die Gesundheit
wieder bringen könnten! Schon in der nächsten Vollmondnacht
schlich das todtraurige Mädchen heimlich aus der Hütte und eilte
zur Trefferwand. Wie klopfte ihr das Herz so bange, als sie endlich vor
dem Schlüsselloch stand und nun den Berggeist rief!
Da krachte und grollte es im Gestein; das Schlüsselloch streckte
sich aus zu einem hohen Eingang - und darin stand der Zimnitzgeist im
grauen Lodengewand, einen Wetterfleck um die breiten Schultern, mit festen
Nagelschuhen und einem derben Bergstock. Nur ein Goldreif um seinen Hirtenhut
gab Kunde von seiner königlichen Macht.
Ernst blickte der Herr des Zimnitzreiches auf das ängstliche Mädchen
nieder und sprach: "Du hast mich gerufen; was willst du von mir?"
Gertraud faßte Mut, denn der Alte schien nicht böse zu sein.
So erzählte sie ihm vertrauensvoll ihr Leid um die kranke Mutter.
Da sagte der Geist nichts weiter als das Wort: "Komm!"
Und hinter ihm her und an den drei ganz zahmen Hunden vorbei schritt sie
in einen taghell beleuchteten, riesigen Saal, an dessen Wänden tausend
und abertausend Blumentöpfe standen.
Die verschiedensten Blumen waren hier zu sehen; manche von ihnen erschlossen
erst die Knospen; andere blühten eben in reichster Pracht - und wieder
andere neigten sich welk und müde zur Erde! Der Zimnitzgeist griff
nach einem Gartengeschirr, in dem eine fast ganz erstorbene Blume kraftlos
hing, und sprach bedauernd: "Ich kann dir nicht helfen - das hier
ist die Lebensblume deiner Mutter; du siehst selbst, daß sie todgeweiht
ist!"
Erschüttert starrte Gertraud auf die armselige Pflanze und betete
verzweifelt um einen rettenden Gedanken. Und plötzlich bat sie: "Du
hoher Bergfürst, bitte: zeig mir doch auch meine Lebensblume!"
Da brachte der Zimnitzgeist ein kleines, eben aufblühendes Rosenstöcklein
herbei, das Gertraud hastig mit glücklichem Lachen an sich riß.
"Das soll meine geliebte Mutter haben!" rief sie frohlockend.
"Und die welke Blume, die nehme ich für mich! Ich brauche ja
auf dieser Welt nichts anderes mehr, als daß mein Mütterlein
am Leben bleiben darf!"
Und sie küßte dem Alten vom Berge dankbar die Hand und wollte
mit ihren beiden Blumentöpfen nach Hause eilen.
Er aber hielt sie zurück und sprach gütig: "Deine Kindesliebe
ist groß und echt, du braves Mädchen! Und so hart ist der Zimnitzgeist
nicht, daß er deinen frühen Tod wollte! Du hast die Prüfung
bestanden - und hier ist nun ein zweites Rosenstöcklein auch für
dich! Geh heim und lebe noch lange in Zufriedenheit mit deiner Mutter!"
Als Gertraud zu früher Morgenstunde in das Stübchen trat, fand
sie wahrhaftig die teure Mutter völlig gesund vor. Das war ein Jubel
und Umarmen und Herzen - da hätte man dabeisein mögen!
Die Lebensblumen blühten fortan in der niederen Hütte jahraus,
jahrein! Wie aber wurden sie auch in gegenseitiger Liebe und Sorge gepflegt!
Und obendrein vergaßen Mutter und Tochter nie, allen Leuten weit
und breit vom mitleidigen Zimnitzgeist zu erzählen.
Diese Geschichte rührte viele Herzen im Laufe der Zeit. Und ein begabter
Lehrer, der das konnte, schrieb sogar ein ergreifendes Theaterstück
über Gertrauds nächtlichen Opfergang zum Berggeist. Das Stück
wurde mit Leuten aus Kreutern und Pfandl auch wirklich einstudiert und
1929 erstmals aufgeführt. - - Und wo? - - Vor dem schönsten
Hintergrund, den du dir nur denken kannst: vor der Trefferwand!
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981