DAS ENTRÜCKTE BRAUTPAAR

Einst zogen ein reiches Brautpaar samt kleinem Gefolge aus einem Dorfe in ein anderes naheliegendes, um dort bei den Eltern der Braut das Hochzeitsfest zu feiern. Lustig und fröhlich, unter Begleitung einiger Musiker, zogen sie die Straße entlang und kamen zum Untersberg. Nachdem sie hier angelangt waren, fing einer aus der Gesellschaft an zu erzählen, daß in dieser Gegend ein Kaiser mit einem bedeutenden Heere verschwunden sei und daß seit jener Zeit hier Geister erscheinen, welche die in dieser Gegend Wandernden beschenken. Sogleich fing der Bräutigam an, den Geist zu rufen und zu bitten, er möge sie mit etwas beschenken. Auf einmal öffnete sich der Berg, und ein in grau gekleideter, kleiner Mann mit silberweißen Haaren erschien, der ihnen eine Türe in das Innere zeigte. Die ganze Gesellschaft folgte ihm nach, und sie kamen in eine Reihe schöner Zimmer, in deren einem eine Tafel gedeckt war und Speisen und Getränke aufgetragen standen. Die ermüdeten Brautleute und ihr Gefolge setzten sich zu Tische und ließen es sich schmecken. Nach dem Mahle bedurften aber alle des Schlafes, weil sie etwas zu viel getrunken hatten. Beim Tische sitzend entschlummerten alle ruhig. Als sie erwachten, führte sie der Berggeist hinaus. Bei Tage kamen sie an die Erdoberfläche, allein sonderbar, alles hatte sich ihnen während dieser Zeit ganz verändert. Die in dieser Gegend Wohnenden verstanden ihre Sprache nicht, überhaupt schien es ihnen, als seien sie in einem ganz fremden Lande. Nach mehreren Tagen kamen sie in ein Dorf. Sie fragten, wie es hieße, und sie erhielten den Namen ihres Heimatortes zur Antwort. Aber auch hier schienen sie nicht zu Hause zu sein. Sie suchten ihre Wohnhäuser und fanden sie nicht; denn an deren Stelle standen ganz andere, neugebaute Häuser. Sie begaben sich zum Pfarrer und erzählten ihm alles, was geschehen war. Dieser schlug seine Bücher auf und fand wirklich, daß vor hundert Jahren ein junges Brautpaar nebst einigen Menschen im Untersberge verschwunden sei.


Quelle: Vernaleken, Theodor, Alpensagen, Wien 1858, Nr. 49