DER SCHWEIGSAME ZUG
Unweit Salzburg ist der Paß am »hangenden Stein«. Zur Zeit der Franzosenkriege, wo Salzburg bald diesem, bald jenem Herrn gehörte, wurde der Beamte in tiefer Nacht aus dem Schlafe geweckt; ein Zwergmännchen, dergleichen er nie gesehen, stund am Fenster und forderte ihn auf, die Gitter zu öffnen. Er blickte um sich und gewahrte eine unabsehbare Menge ähnlicher Gestalten. Er wagte nicht, den geforderten Dienst zu verweigern. Und nun begann der Durchmarsch der Untersbergmännchen. Voran zogen Jünglinge, wohl in einer Front von zehn Mann; ihnen folgten Männer, alle nach alter Art gekleidet und bewaffnet. Dann folgten Greise, ihrer Kleidung nach schienen sie Richter oder Räte zu sein, worauf der Zug sich schloß, wie er begonnen. Wohl zwei Stunden dauerte der schweigsame Zug. Der letzte befahl, die Gitter wieder zu schließen. Am frühen Morgen erkundigte sich der Beamte bei den Landleuten des nächsten Dorfes. Einige hatten den Marsch deutlich vernommen. Sofort machte der Beamte seiner Behörde in Salzburg die Anzeige. Dorthin berufen, blieb er bei seiner Aussage und erklärte, obwohl von militärischer Seite selbst mit körperlicher Züchtigung bedroht, daß er kein Wort davon zurücknehmen könne. - Das bedeutet Krieg, meinten die mit der Sage vertrauten Personen; immer wenn die »Untersbergmandln« sich in Waffen zeigen, oder wenn man aus den Höhlen des Berges Trommelschall und Waffengetöse hört, wird das Land von feindlichen Truppen überschwemmt.
Quelle: Vernaleken, Theodor, Alpensagen, Wien
1858, Nr 49