DAS WUNDERBROT
Lazarus Gitschner, von welchem in diesem Buche schon einmal die Sprache war, erhielt bekanntlich, als er aus dem Untersberge kam und von seinem kleinen Führer Abschied nahm, von diesem zwei Laiblein Brot als Wegzehrung. Lazarus jedoch aß auf dem Heimweg nichts davon, sondern bewahrte sie auf. Als er zu Hause angekommen war, wollte sein treues Weib aus Freude über die glückliche Rückkunft ihres Gatten ein gutes Mahl zurecht richten und die Nachbarn hierzu laden. Lazarus indes meinte, die Nachbarn könne sie schon laden, für das Mahl aber werde er sorgen. Ungläubig schüttelte seine Frau den Kopf, denn sie meinte, ihr Mann treibe Scherz. Dem war aber nicht so.
Als nun die Nachbarn beisammen waren, nahm Gitschner eines von den beiden Laiblein und teilte es in so viele Teile, als Gäste anwesend waren. Dann gab er jedem von ihnen ein Stück und kredenzte einen guten alten Apfelmost dazu. Alle aßen und waren voll des Lobes über den guten Geschmack des Brotes, und so wohl und angenehm war es allen im Magen, als hätten sie an der vornehmsten Tafel gespeist. Als die Gäste fort waren, bewahrte Lazarus das zweite Laiblein Brot im Schranke auf und sagte seinem Weibe, sie möge sparsam mit demselben umgehen, damit sie lange Zeit davon hätten.
Gitschner lebte wie zuvor treu seinen Pflichten gegen Gott und den Nächsten; namentlich den Armen war er ein treuer Helfer in der Not. Nahezu das ganze zweite Laiblein Brot hatte er schon an solche verteilt, da klopfte eines Tages eine Bettlerin an die Türe und flehte um Brot, da sie der Hunger so sehr quäle und überdies Krankheit sie unfähig gemacht habe, sich durch Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen.
Da sprach Lazarus zu seinem Weibe: »Nicht wahr, Frau, du gibst das letzte Stück der Bettlerin, sie ist krank und bedarf eines Kraftbrotes. Gott möge es segnen, daß sie und ihre Kinder daran genug haben und daß sie gesund werde.«
Gertrud gab mit Freuden das letzte Stücklein hin, wiewohl sie dasselbe für sich hatte aufbewahren wollen.
Die kranke Bettlerin zog innig und dankend weiter; sie aß von dem Brote und wurde gesund.
Tags darauf öffnete Lazarus den Schrank und war überaus erfreut, denn ein ganzes Laiblein Brot lag auf derselben Stelle, wo das frühere gelegen hatte. Er rief sein Weib herbei, und diese war nicht wenig erstaunt ob des Wunders, das hier geschehen. Beide kosteten ein Bröcklein: es war richtig dasselbe Brot, voll Würze und Schmackhaftigkeit. Da dankten sie Gott für seine Gnade und gelobten, von dem Brot guten Gebrauch zu machen. Und das taten sie auch; Hungernde und Arme, Kranke und Bresthafte wurden davon gespeist und geheilt. Dafür erneuerte sich der Segen immer wieder und erbte sich auch fort auf die Kinder der Gitschnerschen Eheleute. Als aber Johann, der Sohn des Lazarus, zum zweiten Male geheiratet und ein böses Weib ins Haus gebracht hatte, das hartherzig gegen die Armen war und diese herzlos und ohne Gabe vom Hause wies, da war eines Tages der Segen im Schranke verschwunden und das Wunderbrot hörte auf zu sein.
Quelle: Freisauff, R. von, Salzburger Volkssagen,
2 Bde., Wien/Pest/Leipzig 1880, Bd I, S. 102 f.