DIE BLUTSCHANDE VON MOOSHAM
In einem Zimmer des unteren Schlosses befindet sich ein Gemälde, welches vier Personen, zwei männliche und zwei weibliche, in Brustbildern zeigt. Das Bild zur Linken stellt ein Mädchen mit fliegenden Kopfhaaren und kummervollem Gesichte dar; über ihr ist eine Elster zu sehen. Daneben ist ein Mann mit einem auf der Brust geöffneten Hemde abgebildet. Seine Gesichtszüge drücken Verzweiflung und Gram aus. Über ihm sitzen zwei Raben, von denen der eine nach dem Kopfe des Mannes pickt. Die dritte Person ist ein Mädchen mit unschuldsvollem, wunderlieblichem Antlitze; reiches blondes Haargeflecht zieht sich unter dem Hut gegen die Schläfen herab. Das letzte Bild aber zeigt einen Menschen von verwildertem Aussehen. Schadenfreude liest man aus seinem Gesichte. Er hat den Daumen zwischen den Zeige- und Mittelfinger gesteckt und blickt mit einem Gesichte, das Hohn und Spott ausdrückt, zu dem erstgenannten Manne hinüber. Über diese seltsame Bildergruppe geht im Volke folgende Sage:
Es lebten einst zwei Brüder aus dem Rittergeschlechte von Moosham, welche zwei Schwestern hatten. Beide Brüder verliebten sich in die eine der Schwestern, über welcher die geschwätzige Elster als Zeichen, daß nichts verborgen bleibt, zu sehen ist. Der Ältere fand Gegenliebe; höhnend wies er dem Jüngeren den Daumen. Dieser, der sich in seiner Leidenschaft betrogen sah, geriet darüber in wilde Raserei. Seiner selbst nicht mehr mächtig, ermordete er den Bruder und stürzte sich dann aus Verzweiflung über seine eigene Untat vom hohen Söller auf den felsigen Grund des Burggrabens hinab, wo er zerschmettert liegen blieb, den wilden Raubvögeln eine willkommene Beute.
Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu
bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 98