DAS VERLORENE KIND

Ein Kind des Suppanbauern in Pichl, dessen Gehöft in der Nähe des Schlosses liegt, hatte sich einmal in die unterirdischen Räume des Schlosses verirrt und konnte den Ausweg nicht mehr finden. Als man nun die Abwesenheit des Kindes gewahrte, machte man sich alsogleich auf die Suche. Alle Räume des Schlosses wurden durchstöbert, doch fand man nirgends eine Spur. Man glaubte nun, ein böser Geist habe das Kind verzaubert und halte es im Schlosse festgebannt. Da verfiel eines von den Hausleuten des Suppanbauern auf die Idee, den Haushund namens „Vieräugl" mit auf die Suche zu nehmen. Nach dem Volksglauben können nämlich die bösen Geister einem vieräugigen *) Hunde nichts anhaben und müssen bei seinem Nahen weichen. Und siehe da, der Hund drang in das Innere des Schlosses ein, und in einem unbekannten, bisher nicht betretenen Räume wurde das Kind zur Freude aller Leute unversehrt aufgefunden.

*) „Vieräugl" wird ein Hund genannt, dessen Fell über den Augen zwei helle Flecken aufweist.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 76