DER BERGSTURZ AM HUNDSSTEIN

Der alte Karlbauer in Lintsching erzählte, wenn seine Lieben in der Christnacht vor der Mette um ihn hersaßen, mit Vorliebe von einem furchtbaren Naturereignis, das sich in der Christnacht des Jahres 1768 zugetragen. Er meinte damit den Bergsturz am Hundsstein. Es war sein Großvater, der dies erlebt hatte und von dem er es des öfteren erzählen gehört. Dieser war damals ein achtjähriges Büberl, als er seine Eltern in der Christnacht zum mitternächtigen Gottesdienste nach Mariapfarr begleitete. Als nach dem Gottesdienste die Andächtigen die Kirche in frommer Stimmung verließen, wurden sie durch ein donnerähnliches Getöse aufgeschreckt, das sich aus der Richtung des Weißpriach- und Lignitztales her vernehmen ließ. Es war wie ein langanhaltendes, ununterbrochenes Donnern, dem ein gewaltiges Erdbeben nach dem andern folgte, als wenn alle Berge übereinanderstürzen wollten. Grelle Blitze leuchteten dazwischen und erhellten für Augenblicke das furchtbare Schauspiel, das dort vor sich ging. Schreckerfüllt rieten die Menschen, was dort wohl sein könne. Man hörte nur ein unaufhörliches Poltern und Krachen wie das Stürzen und Aufeinanderschlagen schwerer Gesteinsmassen, alles andere aber blieb im Dunkel der Nacht verborgen. Nur manchmal wenn ein Blitz besonders hell aufleuchtete, konnte man in jener Richtung eine schwarze Wolkenmasse sich auftürmen sehen.

Eine ungeheure Angst und Aufregung bemächtigte sich der Leute ob der schrecklichen Erscheinung. Die abenteuerlichsten Gerüchte gingen von Mund zu Mund. Die einen behaupteten, es sei ein Erdbeben, das sich immer mehr auszubreiten beginne. Andere meinten, ein Planet sei mit der Erde zusammengestoßen und dabei in Trümmer zerfallen. Manche wieder hörte man sagen, es müßten dies Kanonen ganz eigener Art sein, die von den Almen herniederdonnern und die Geburt Christi im weiten Tale verkünden. Die Ängstlichen und Zaghaften aber befürchteten gleich das Schlimmste und glaubten, der Jüngste Tag, der das Ende der Welt mit sich bringe, sei angebrochen. Die Besonneneren aber stellten dies in Abrede und versicherten, daß dies nur ein Bergsturz, allerdings ein gewaltiger, sein müsse. Erst gegen Morgen wurde es ruhiger. Jenes furchtbare Donnern und Beben, das während der Nacht die Menschen in Schrecken versetzt hatte, war verstummt. Die Rauch- und Staubwolken begannen sich zu zerteilen; nur ein Schwefelgestank war noch mehrere Tage im ganzen Lungau verbreitet.

In den nächsten Tagen machten sich beherzte Männer auf den Weg, um an Ort und Stelle Nachschau zu halten, was geschehen sei. Und da sahen sie das schreckliche Naturereignis, das sich in der Christnacht abgespielt hatte: die oberste Felsenkuppe des Hundssteins war abgestürzt und ihre ungeheuren Felsentrümmer hatten sich über die Wände hinab in die Tiefe des Weißpriach- und Lignitztales gewälzt. Der Schaden war ungeheuer. Prächtige Almen und ausgedehnte Weidegründe waren verschüttet und in ein Steinmeer verwandelt und dort, wo früher zahlreiche Rinder geweidet und ein fröhliches Almleben geherrscht, wo grünende und blühende Almmatten das Auge erfreut hatten, war über Nacht ein Schutt- und Steinfeld entstanden. Ein Glück nur, daß der Bergsturz im Winter erfolgte, da er sonst Menschen und Vieh unter seinen Trümmern begraben hätte. Ältere Leute wußten hernach zu erzählen, daß der Felsenkopf des Hundssteins schon lange vor seinem Sturze zahlreiche Risse und Spalten aufgewiesen und sich tausendfältig zerklüftet habe. Wer das Weißpriach- und Lignitztal besucht, der kann noch heute die Spuren der schrecklichen Zerstörung sehen und die greuliche Verwüstung schauen, die der gewaltige Bergsturz hervorgerufen hat.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 43