DER EWIGE JUDE GEHT ÜBERS GEBIRGE

Als er noch ein Knabe war, erzählte dem Verfasser eine alte Frau oft folgende Geschichte: Meine Großmutter stand in ihren Mädchenjahren beim Tauernwirt im Hospiz am Radstädter Tauern im Dienst. Eines Tages kam nun ein eisgraues Männchen die Paßstraße gezogen und bat um ein Nachtquartier. Am Abend aber, bei einem Glase Wein, wurde der schweigsame Gast plötzlich gesprächig. „Jetzt", so sagte das Männchen, „gehe ich das zweite Mal über den Tauern. Als ich das erste Mal über dieses Gebirge zog, lag hier noch alles in tiefster Wildnis, und nur ein schmaler Pfad führte über diesen Gebirgspaß. Nun ich das zweite Mal darüber gehe, ist alles voll Leben und eine schöne breite Straße führt über das Tauerngebirge *). Wenn ich zum dritten Male über den Tauern ziehen werde, dann wird diese Gegend wieder öde und verlassen sein, denn die Menschen werden sich einen Weg durch das Gebirge bahnen **). Wenn das geschieht, dann ist das Ende der Welt nicht mehr ferne." So sprach das greise Männlein, und zog andern Tags weiter. Es mag wohl der Ewige Jude gewesen sein.

*) In der Zeit vor 100 Jahren, als noch die zahlreichen Frachtfuhrwerke über den Tauern gingen.
**) Die Eisenbahn!


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 49