DIE SIEGMUNDSSAGE

In dem hohen Burgsaale saß der alte Moosheim, sein Blick ruhte auf dem Antlitze seines Sohnes Siegmund, der am Erkerfenster stand. Der greise Vater hatte an dem Zwanzigjährigen, dem einzigen Stammhalter seines Hauses, die größte Freude und deshalb war es schon lange seine Absicht, seinen Sohn sobald als möglich zu vermählen, um noch in seinen alten Tagen das Glück genießen zu können, als Großvater ein holdes Enkelkind auf seinem Schöße zu schaukeln. So manche Schöne hatte er seinem Sohne zur künftigen Ehegattin bereits vorgeschlagen, und so begann der alte Moosheim wieder das gewohnte Gespräch.

„Sieh, lieber Siegmund", begann er „soeben erhielt ich Nachricht von meinem Freunde Otto von Saurau, dessen schmuk-kes Töchterlein uns in kurzem besuchen wird; sieh, mein Sohn — das Mädchen wäre ganz für dich geschaffen."

„Vater, laßt das beiseite", entgegnete Siegmund verstimmt. „So darf ich denn in meinem Leben nicht mehr hoffen, meinen einzigen Wunsch erfüllt zu sehen?"

„Vater, von dem sei keine Rede", erwiderte der Sohn, „ich hoffe Euch noch recht lange am Leben zu haben, doch jetzt gönnt mir noch die freien Tage meiner Jugend."

Der alte Moosheim schüttelte den Kopf und verließ mißmutig den Saal.

Kaum hatte der Vater die Tür hinter sich geschlossen, so sprang Siegmund rasch vom Sitze empor.

„Mit Gewalt will man mich an ein Wesen ketten, das mich nie glücklich machen kann", seufzte der Jüngling; „nur Marien gehört mein Herz, nur ihr, der engelsguten. Allein, Maria ist arm, ärmer als die letzte Magd unseres Hauses, und dennoch liebe ich sie, und schwöre es bei dem Glauben an meinen Schöpfer, daß nur Maria einstens meine Gattin werde." Schnell erfaßte er Helm und Armbrust und stürzte zur Tür hinaus.

In dem nahen Unternberg stand am Ende des Dorfes ein kleines Hüttchen, in diesem wohnte Maria mit ihrer Mutter. Das liebliche Mädchen war die Tochter des ehemaligen Kuhhirten des Dorfes; sie war gottesfürchtig und fromm erzogen und lebte nun schon seit einem Jahre nach des Vaters Tode mit ihrer alten Mutter allein und verlassen in dem Hüttchen.

Bei einem Kirchgange hatte Siegmund sie kennen gelernt; das sanfte Benehmen des holden Mädchens hatte sein Herz bald so entflammt, daß er in wahrhaft reiner, herzlicher Liebe für sie entbrannte und den heiligen Schwur tat, in Ehrbarkeit und Treue das Mädchen zu lieben und einst als Gattin in sein Schloß heimzuführen.

Dabei erwog er wohl alle Hindernisse; er prüfte sich und sah nur zu deutlich, welche Stürme ihn erwarteten.

Er kannte den Vater und dessen angestammten Ahnenstolz, er kannte des Mädchens frommes Herz und wußte gar wohl, daß er, wenn sie seinen Stand wüßte, ihre Liebe niemals erringen würde.

Bei alledem war er aber fest überzeugt, daß Maria ihn von Herzen liebe. Schnell war sein Entschluß gefaßt. In des Vaters Forst wohnte Egon, der alte Jäger, der Siegmund wie sein eigenes Kind liebte. Diesem vertraute sich der Jüngling an, und Egon, der dem jungen Ritter nie eine Bitte abzuschlagen vermochte, willigte auch diesmal in das Vorhaben des jungen Moosheim.

Seit dieser Zeit war Siegmund zur Freude seines Vaters ein großer Jagdliebhaber. Täglich zog er mit Speer und Bogen in den Wald — doch nur bis zu des Försters Wohnung, denn dort wurden Bogen, Schwert und Jagdrock zur Seite gelegt, und in dem Kleid eines schlichten Jägerburschen kam Siegmund in die Hütte Mariens und genoß das Glück der reinsten Liebe. So schwanden Jahre, und die beiden Liebenden fühlten sich unzertrennlich, doch nun drang der alte Graf mit Strenge in den Sohn, sich eine Braut zu wählen.

Völlig verstört langte Siegmund an diesem Tage im Hause seines väterlichen Freundes an. Dieser beruhigte ihn, so gut er es vermochte und bald war ein Plan gefaßt, der Siegmund zu seinem Glück verhelfen sollte.

Ruhig kehrte der Jüngling in das väterliche Schloß zurück. Nach etlichen Tagen herrschte ein besonders reges Leben in dem Hause des alten Egon. So freundlich und fröhlich sich die Vorbereitungen zu dem kleinen Feste gestalteten, so zeigte sich doch auf dem Antlitze des alten Jägers eine gar angstvolle Miene.

Schon fing es an zu dämmern, im Walde herrschte schon ziemliche Dunkelheit; da klopfte es leise an der Tür und Siegmund und Maria traten festlich geschmückt zur Tür herein; ihnen folgten die alte Mutter Anna und der Pfarrer des Ortes, ein Herzensfreund des alten Egon.

Der Überredungskunst Siegmunds und des Försters war es gelungen, den ehrwürdigen Pfarrer zu bewegen, die beiden unglücklich Liebenden durch Gottes Wort für ewig in dieser einsamen Hütte ohne Wissen des ahnenstolzen Vaters zu verbinden.

Schon lagen die beiden Hände der Liebenden ineinander, schon hatte Maria sanft das Wörtchen „Ja!" gesprochen, im festen Glauben, sie werde Siegmund, dem Sohne des Försters Egon, verbunden, da stürzte ein Bursche zur Türe herein und rief, halb verwirrt vor Schrecken und Angst: „Der alte Moosheim mit seinen Leuten reitet die Anhöhe herab."

Siegmund wurde totenblaß.

Schnell nahm er sein Liebchen in die Arme, stürmte zur Stube hinaus und schwang sich behende auf des Försters Roß, das der Bursche bereits aus dem Stalle geführt hatte.

Mit Blitzesschnelle flogen Roß und Reiter von dannen; doch der alte Moosheim war der Hütte schon zu nahe, als daß er die eilige Flucht seines Sohnes nicht bemerkt hätte. Schnell wandte er seinen Rappen und setzte den Fliehenden nach. Schon glaubte sich Siegmund mit Maria gerettet, da sah er vor sich einen schrecklichen Abgrund und hinter sich seinen Vater mit dem Gefolge. „Maria!" rief er mit erstickter Stimme, „kannst du mir verzeihen ? Liebst du mich wahrhaft ?"

„Dein bis in den Tod", flüsterte die Erschrockene. Da wandte Siegmund das Pferd. „Haltet ein, Vater!" rief der jugendliche Held, „sprecht Gnade für mich und Marien oder dieser Abgrund schützt uns vor eurem Rachegefühle."

Schnell hielt Moosheim den Rappen an, und schon schwebte das Wort Gnade auf seinen Lippen, da erwachte der alte Ahnenstolz in ihm und mit dunkelgeröteter Wange und zornsprühendem Blicke rief er dem Sohne zu: „Bei Gott ist Gnade, bei mir suchst du sie vergebens!"

Mit Manneskraft schwenkte Siegmund das Pferd, drückte Maria fest an die Brust — ein Schrei — und Roß und Reiter lagen in des Abgrunds Tiefe.

Das Gefolge hielt wie zu Stein erstarrt und eine helle Träne trat in des Vaters Auge. „Bei Gott ist Gnade", lispelte er und sprengte mit Sturmeseile nach Hause.

Den alten Egon, den Pfarrer und die Mutter Mariens hatte man bereits auf das Schloß gebracht; sie erwarteten die fürchterlichsten Strafen. Der alte Graf befahl nun die drei Gefesselten vorzuführen. Voll Todesangst traten sie vor ihren Herrn, der grausamsten Strafen gewärtig. Da lag der alte Herr, bleich und mit kummervollem Antlitz im Bette; er reichte dem alten Egon die Hand und begann mit leiser Stimme: „Egon, mein treuer, alter Diener, ich hatte einen Sohn, die Freude, Hoffnung und der Stolz meiner alten Tage, du hast mir ihn entrissen; doch nein! nein! Die Gewalt der Liebe war es, die mir meinen Sohn entwendete, und ich, der unglücklichste aller Väter, ich bin sein und seines Weibes Mörder."

Ein Strom von Reuetränen stürzte über die gefurchten Wangen.

„Ihr seid frei! Mein Gewissen ist mit Mord befleckt, betet für meine unglückliche Seele, denn nur bei Gott ist Gnade." Er drückte das tränenschwere Angesicht in die Kissen und verschied. Der Gram um den Sohn hatte ihm das Herz gebrochen.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 99