Der Knecht des Altjudenbauern
Da lebte einst vor langer Zeit beim Altjudenbauern in Piesendorf ein Bauernknecht, der wegen seiner ungewöhnlichen Körperkräfte der "Stark-Wast" genannt wurde. Er war der beste Ranggier weit und breit, und noch nie hatte ein Gegner den "Stark-Wast" durch List oder Gewandtheit bezwungen, an Stärke war der Wast allen überlegen. Er war sich seiner unbezwingbar scheinenden Kraft auch bewußt, und wo es nur ein Ranggeln gab, war auch er dabei, seine Stärke und seine sagenhafte Unbesiegbarkeit zu zeigen und damit zu prahlen. Spätabends kehrte er einst, wie gewohnt, als Sieger heim. Sein Weg führte ihn am Friedhof vorbei. In frevelhaftem Übermut, dem auch die Stätte der Toten nicht heilig war, rief er hinein: "Der Stärkste, der da drinnen ist, kann herauskommen!" Da erhob sich aus einem Grabe eine hünenhafte weiße Gestalt und nahte sich dem Friedhofsgitter. Nun faßte den Stark-Wast ein Grauen, und wie von Sinnen wankte er heim. Drei Tage lang lag er in wilden Fieberphantasien, und am vierten Tag lag der stolze Ranggler still und stumm auf dem Totenbett. Sein frisches, starkes Leben mußte er als Sühne geben für seinen Frevelmut.
Quelle: Heimatbuch Piesendorf, Hofrat Dr. Max
Effenberger, Piesendorf 1990, S. 561