DAS BERGMÄNNLEIN AUF DER GERLOSPLATTE
Auf der Gerlosplatte zwischen dem Gerlosberg und dem weit höheren Plattenberg hauste vorzeiten ein Bergmännlein. Seine Kleidung war einfach, eine graue Tracht und ein graues Mäntelchen umhüllten seine kleine, gedrungene Gestalt; ein kleines rundes Hütlein bedeckte den Kopf mit dem klugen Gesicht und dem großen grauen Bart. In der Rechten trug es gewöhnlich einen starken Birkenstock.
Dem Männchen mochte es wohl in seiner abgelegenen Behausung zu einsam sein; denn es suchte gern menschliche Gesellschaft auf und stieg oft ins Gerlostal, selbst ins Zillertal hinab, um mit den Hirten und Bauern allerlei Kurzweil zu treiben. Da saß es dann mitten im Kreis der biederen Landleute und sang mit ihnen "Schnadahüpfeln" um die Wette, wobei man wohl nicht sosehr seinen schönen Gesang bewunderte - denn es hatte eine gar rauhe, krächzende Stimme - als viemehr den treffenden Witz, der ihm eigen war. Das Männchen war aber nicht nur gesellig, es erwies sich auch als äußerst hilfreich und gefällig gegen die Leute, die ihm freundlich entgegenkamen. Leicht geriet es in Zorn, und da es eine wahre Bärenkraft besaß, hatte der nichts zu lachen, der sich den Kleinen zum Feind gemacht hatte.
Einem Senner geschah es einmal, daß sich ein paar Kühe aus seiner Herde auf der Madersbacherwand verstiegen hatten. Es war ein sehr stürmischer, regnerischer Tag; der Melker und Hannes, der Kühbub, hatten unter Lebensgefahr alle Hänge und Steige abgesucht, um das verlaufene Vieh aufzufinden. Aber alle Mühe war umsonst gewesen; mißmutig saßen sie nun in der Hütte in Angst und Sorge über das Schicksal der ihrer Obhut anvertrauten Tiere. Besonders der Kühbub war dem Heulen nahe; denn der Melker schob ihm alle Schuld zu, und er mußte daher fürchten, seine Stellung zu verlieren.
Die Dämmerung war schon hereingebrochen, da bemerkte der Junge einige dunkle Gestalten über die Matte her auf die Almhütte zukommen. Im gleichen Augenblick aber jauchzte er auch schon laut auf vor Freude, denn er hatte die beiden verloren geglaubten Kühe erkannt, die soeben wohlbehalten dem Stall zutrabten. Hinter ihnen aber trippelte ein kleines Männchen daher, das nun, das Regenwasser von seinem runden Hütlein schüttelnd, auf die Hütte zuschritt und zur Tür hereinkam.
Melker und Kühbub sahen verwundert den sonderbaren Besucher an; der aber sagte, sich vergnügt die Hände reibend: "So, da wären wir nun; schaut mich nur an wie die Kuh das neue Tor; kannst mir glauben, lieber Hannes, es war keine Kleinigkeit, die Kühe von der steilen Madersbacherwand herab und hierher zu treiben. Weil du mir aber in der vergangenen Woche eine so tüchtige Schüssel voll guten Grießbreis gekocht hast, dachte ich, eine Liebe ist der andern wert, und habe eure Kühe vom sicheren Verderben gerettet." Dann winkte er beiden freundlich zu und verschwand.
Aber nicht alle Leute lernten das Gerlosmännlein von seiner guten Seite kennen. Es gab auch solche, die seinen Zorn zu fühlen bekamen; doch hatten sich diese die üble Erfahrung, die sie mit dem kleinen Wicht machten, selbst zuzuschreiben.
Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich,
o. A., o. J., Seite 363