Die Loferer Jungfrauen
Ein mit Schätzen reich gesegneter Mann besaß drei Töchter, von welchen eine des Augenlichtes beraubt war. Als er am Sterbebette lag, empfahl er diese den Schwestern ganz besonders an und beschwor sie, für ihr leibliches und geistiges Wohl nach Kräften zu sorgen und sie im Erbe ja nicht zu verkürzen. Sie sicherten dies zu, und bald schloß der Vater die Augen für immer. Als es nun zur Teilung der Barschaft kam, nahmen die sehenden Schwestern, da das Zählen zu langsam gegangen wäre, ein Scheffel und maßen das Geld. Für sich machten sie das Maß übervoll, für die blinde Schwester aber kehrten sie das Scheffel um und belegten nur den Boden mit Geld. Dann ließen sie die Betrogene tasten, ob das Gefäß voll sei, was diese, da sie ja nur fühlen, aber nicht sehen konnte, allemal bejahte. Diese ungerechte Übervorteilung der Armen blieb aber nicht ungestraft. Beide Schwestern müssen im Loferer Loch den unterschlagenen Schatz bewachen, bis er auf den letzten Pfennig behoben ist. Wer in das Loch einzudringen den Mut hat, findet in demselben eine Truhe voll Geld, welche ein Hund mit feurigen Augen bewacht und jedem Ankömmling grimmig die Zähne zeigt. Bleibt man unerschrocken, so kann man der Truhe Geld entnehmen, soviel man tragen kann, und gelangt am entgegengesetzten Ende ins Freie. Würde aber jemand mehr nehmen, dann müßte er seine Geldgier mit dem Leben bezahlen. Die beiden Jungfrauen lassen sich öfter, meist zu den heiligen Zeiten des Jahres sehen; die eine von ihnen, welche der Erlösung näher ist, sieht halb schwarz, halb weiß aus. Im frisch gefallenen Schnee wurden oft Fußstapfen bemerkt, welche zur Höhle führten.
Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd.2,
Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 620f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus
Salzburg, München 1993, S. 143.