Das Wiesbachhorn
Die Almen auf dem Wiesbachhorn waren einst zweien Grafen zu eigen, welche zu Fischhorn in Bruck und im Schlosse Kaprun hausten. Jeder von ihnen besaß mehr als zweihundert Kühe, die in jedem Sommer auf das Wiesbachhorn getrieben wurden, da es hier vortreffliches Futter in großer Menge gab. Bei so bedeutender Üppigkeit des Graswuchses verlohnte es sich leicht, eine Almhütte zu bauen. Und sie bauten auch eine, so groß und schön, wie sie größer und schöner weit und breit nicht zu finden war. Sechs bis acht Hirten und ein Senner bewohnten diese und betrieben die Almwirtschaft. Obwohl sie dabei nichts weniger als sparsam lebten, machten sie doch so viel Schmalz und Käse, daß die Grafen damit nicht ein und nicht aus wußten. Käufer dafür fanden sich nicht, und es zu verschenken, ließ ihr Geiz nicht zu. so kam es, daß vieles zugrunde ging und weggeworfen werden mußte; vieles aber verwendeten sie zu Dingen, daß es eine Sünde war, mit der Gottesgabe so zu verfahren. Noch ärger trieben es die Hirten und der Senner, welche sich nicht selten in der Milch badeten. So machten sie es lange Zeit, bis Gottes Strafgericht ereilte.
Der Graf von Kaprun wurde mit einem anderen in eine Fehde verwickelt und fand in einem Gefecht den Tod. Sein Sohne, ein gar stolzer und habsüchtiger Geselle, trat des Vaters Erbe an. hatte jener den Armen doch ab und zu noch Gutes getan, ließ dieser sie mit Hunden aus dem Schlosse hetzen.
Zur selben Zeit lebte in Zell am See ein berüchtigter Zauberer, vom Volke allgemein der Zauberer Jackl genannt. Diesem waren des jungen Grafen Hartherzigkeit und Schlechtigkeit schon lange ei Dorn im Auge und er sann nach, wie er an ihm Rache nehmen könnte. So stieg der Zauberer einmal auf das Wiesbachhorn, um heilende Kräuter zu suchen und kam auch in die Nähe der genannten Almhütte. Da er hungrig und durstig war, trat er in diese und bat den Senner um Milch. Der Senner, welcher den Zauberer nicht kannte, wollte den alten Mann Zum Gegenstand seines Witzes machen und brachte ihm eine große Schüssel voll Milch. Jackl trank, so lange es ihm schmeckte und ließ das übrige stehen. Da sagte der Senner:
"Warum trinkst du nicht alles?"
"Weil ich nicht mehr kann!" - erwiderte der Gefragte.
Da nahm der Senner die Schüssel und schüttete den Rest der Milch über Kopf und Kleid des Zauberers, der zornentbrannt den Schwur tat, daß er alles zugrunderichten werde. Der Senner aber lachte dem Drohenden ins Gesicht und warf ihn schließlich zur Tür hinaus. In seiner gerechten Entrüstung wollte der Zauberer anfangs das ganze Tal vernichten, besann sich jedoch auf dem Wege eines Besseren und beschloß, nur die Alm, die Senner und die Hüter dem Untergang zu weihen, wußte er doch recht gut, daß er dadurch dem Grafen argen Schaden zufügte. Im Tale angekommen, begab er sich sofort zum Grafen von Kaprun und sprach zu ihm also:
"Lasse alle Tiere binnen heute und drei Tagen vom Berge heimtreiben, denn nach dieser Zeit wird das ganze Wiesbachhorn und alles, was dort lebt, vernichtet und aus den blühenden Triften muß ein Ferner werden, auf daß die Welt sehe, wie Gott dem Übermut bestraft."
"Machst du das Horn zum Gletscher" - erwiderte lachend und spottend der Graf -, "so mache es nur schön weiß, damit man es von weitem schon sehen kann."
Kaum waren die drei Tage vergangen, als ein furchtbares Ungewitter an fernen Horizonte aufstieg, sich rasch näherte und sich mit einer solchen Gewalt entlud, wie sei Menschengedenken kein zweites dagewesen war. Schwarze, undurchdringliche Wolken hüllten das Wiesbachhorn ein und verbargen es drei volle Tage den Menschen. Als die endlich wieder verschwanden, stand das Horn vereist, von der blühenden Almwirtschaft und den Sennern war keine Spur mehr zu entdecken. Kein Sommer sah seitdem den Ferner schwinden, im Gegenteil, er wurde immer mächtiger.
Lange Zeit scheute jeder gute Christ, diesen Gerb zu besteigen. Er wird auch heute selten begangen.
An heißen Sommertagen hört man noch heute hin und wieder aus einem Firnrisse am Horn ein schreckliches Geschrei, das gewiß von den Melkern und den Hirten herrührt, die vergeblich der Erlösung harren.
Quelle: Karl Adrian, Alte Sagen aus dem Salzburger Land, Wien, Zell am See, St. Gallen, 1948, S. 71 - 73