Schlußwort.
Wenn wir die vor uns liegende Sammlung der Sagen aus dem Gasteiner Tale
überblicken, so wird es auffallen, daß hier nicht wie in den
meisten Büchern des gleichen Inhaltes bloß die Sagen in ihrem
Wortlaute niedergelegt sind, sondern der Versuch gemacht ist, sie alle
zu einem in sich abgeschlossenen Kulturbilde zu vereinigen, Geschichte,
freie dichterische Gestaltung des Lebens mit einfließen zu lassen
und durch gelegentliche Betrachtungen Erklärungen und Zusammenhänge
zu geben.
Der Volkskundler wird es vermissen oder wird zumindest danach fragen,
welches die ursprüngliche Form der Wiedergabe einzelner Sagen sei,
denn ihm sind Sagen gleich Volksliedern Ausdruck der Volksseele, die den
Anspruch hätten, getreu und ohne Zutat wiedergegeben zu werden. Für
das Gebiet der Gastein wäre aber diese Absicht ganz aussichtslos,
denn die bisherigen Aufzeichnungen haben bereits eine Form gewonnen, die
deutlich zeigt, daß der Verfasser nach seiner Art berichtet, oder
es hat der Dichter sich des Stoffes bemächtigt und mit Freiheit und
künstlerischem Bewußtsein ihn geformt. Und das Wenige, das
nicht nur schriftlich niedergelegt, sondern wirklich als Gemeingut des
Volkes im Munde der Leute noch lebendig ist, verrät selbst die Abhängigkeit
von dem schriftlich Überlieferten.
So durfte bei der Abfassung dieses Büchleins, das doch vor allem
anderen aus der reichen Sagenwelt erzählen will, das ein lebendiges
Bild aus Gasteins Vergangenheit entwerfen möchte, der Sammler in
seiner Weise Ton und Worte setzen, umsomehr, als über das Aufgezeichnete
hinaus die ursprüngliche Form wohl überhaupt nicht mehr zu finden
ist.
Wenn man endlich sagt, daß Sagen eigentlich nicht gelesen, sondern
von Mund zu Mund erzählt werden sollen, so mag in dieser Hinsicht
die gewählte Art der Darstellung erst recht begründet sein.
Möge das Büchlein allen Freunden der von unserem unsterblichen
Grillparzer dichterisch gepriesenen Gastein eine willkommene Gabe sein.
Salzburg, Frühjahr 1926.
Der Herausgeber.
Quelle: Gasteiner
Sagen, Dr. Karl O. Wagner, Bad Gastein, 1926, S. 111 - 112.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Monika Maier, April 2005.