Das Lebenselixier
Theophrastus Paracelsus besaß das Lebenselixier. An drei Personen hatte er die Wunderkraft desselben erprobt, und sämtliche erreichten das hundertste Jahr. Einige Tropfen davon machten die halberloschenen Lebensgeister wieder jugendlich aufflammen, und einem Menschen, in der Vollkraft seiner Jugend eingeflößt, vernichteten sie im Körper plötzlich alle krankhaften Materien.
Über die Wirkung des Elixiers sagt die Sage weiter: Eine wohltuende Wärme durchdringt die Adern, der Blick wird scharf und hell, ein kühner, starker Geist scheint die ganze Körpermaschine plötzlich, wie mit einem Zauberschlage, verwandelt und vergeistigt zu haben. Das Elixier widersteht jedem, auch dem tödlichsten Gifte, die größten körperlichen Anstrengungen und Schwelgereien können seine Götterkraft nicht schwächen. Paracelsus selbst entbehrte monatelang allen Schlafes und tagelang aller Nahrung, genoß dann wieder geistige Getränke im höchsten Überflusse. Trotzdem blieb sein Körper rüstig und stark, kein Geist im unendlichen Reiche der Wissenschaft gleich lebhaft wirkend und schaffend. Nur äußerer, tödlicher Gewalt vermag die Tinktur nicht zu widerstehen, und ein Dolchstoß übt auf den Körper seine natürliche Wirkung.
Erasmus Palmer, ein junger Arzt und Famulus Theophrasts erzählte nun einst seiner Braut, Agatha Schnellerin, von den wunderbaren Wirkungen des Lebenselixiers und erweckte dadurch eine solche Begierde nach demselben in des Mädchens Brust, daß es seine fernere Liebe zu ihm von dem Besitze des Elixiers abhängig machte.
Am nächsten Tage, es war am 24. September 1541, wurde Theophrastus erdolcht in seinem Bette aufgefunden, sein Famulus war verschwunden. Auf ihn fiel sofort der Verdacht, den Mord verübt zu haben, und nach langem Suchen fand man ihn bei seiner Geliebten, welche soeben das Fläschchen mit der Lebenstinktur zur Hälfte geleert hatte.
Erasmus wurde ergriffen und nach kurzem Prozesse zum Tode verurteilt. Am Morgen jenes Tages, an welchem er den schweren Gang zum Hochgerichte machen sollte, fand man ihn tot im Kerker. Reue, Gram und Gewissensbisse hatten ihm das Herz gebrochen.
Skulptur von Anna Cromy
Domplatz / Kapitelplatz Salzburg
© Georg
Hofer
Agatha war in das Kloster der Benediktinerinnen am Nonnberg getreten. Jahre vergingen für sie im bittersten Grame, aber die wunderbare Kraft des Elixiers spottete der Verheerungen, die dieser an einem Menschenleben übt. So wandelte die Beklagenswerte fast ein volles Jahrhundert, einem weiblichen Ahasverus gleich, ruhelos in den Gängen des Stiftes Nonnberg umher, bis sie endlich ihre Schuld gesühnt hatte und der Allbarmherzige sie mit ihrem Geliebten vereinte.
Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen,
Bd.1, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 266f, zit. nach Leander Petzold, Sagen
aus Salzburg, München 1993, S. 98.