Das Salzburger Kindl

In der kleinen Kirche des Lorettoklosters zu Salzburg steht auf einem Seitenaltare, unter einem Glassturz wohlverwahrt, ein Jesukindlein, dessen Krone und Kleidchen mit kostbaren Edelsteinen bedeckt ist. Von diesem Kindlein berichtet eine Legende folgendes:

Salzburger Kindl

Salzburger Kindl
Abbildung aus Dvorak/Tietze, Österreichische Kunsttopographie, Bd. IX, Wien 1912

Eine Gräfin von Öttingen hatte es einer Nonne zu Säckingen in Oberschwaben geschenkt. Diese kam später als Oberin nach Emsisheim in Oberschwaben. Vor ihrer Abreise ließ sie sich von dem Kapuzinerpater Johannes Chrisostomus, einem geborenen Grafen Schenk zu Castel, überreden, ihm das Kindlein während ihrer Abwesenheit zu überlassen. Der nahm es in seine Obhut und wachte sorgsam über das Kleinod. Eines Tages ereignete es sich, daß der Pater, als er vom Chore zurückkehrte, das Kind in vier Stücke zertrümmert, jedes Stück in vier verschiedenen Ecken zerstreut, vorfand. Er weinte darüber bitterlich, sammelte die Bruchstücke zusammen und sprach, ehe er zum Mittagtische ging, zu den Fragmenten: "Mein liebes Büblein, hättest sollen oder doch können, wenn du nur wolltest, besser für dich Sorge tragen. Ich habe niemand, der deine Gestalt ergänzen könnte, so hilf dir denn selbst, wofern es dir gefällt." Und siehe da, als er zurückkam, fand er das Kindlein unversehrt und ohne jede Narbe. Im Jahre 1625 kam der Pater, als er den Heiligen Berg (Andechs in Bayern), mit dem Kindlein im Arme bestieg, zu Falle, während er selbst davonkam, erlitt das Jesukind einen tiefen Riß, der vom Scheitel bis tief in den Leib ging. Der Pater suchte in Überlingen einen berühmten Possierer, namens Georg Heim, auf, der später auch in den Kapuziner-Orden eintrat und ein berühmter Baumeister unter dem Namen Fr. Probus wurde, und bat ihn, das Kindlein wieder zurechtzumachen. Der erklärte das für unmöglich. Am folgenden Morgen hatte es aber ohne menschliches Zutun wieder seine frühere Gestalt erlangt, ohne daß auch nur die Spur einer Verletzung mehr wahrnehmbar war. Ein andermal säuberte der Pater das Kindlein vom Staube, wusch und sonnte es. Ein Windstoß warf es nieder und beschädigte es. Der Pater betete inbrünstig, und abermals ergänzte es sich von selbst wieder bis auf ein paar kleine Ritzen auf der Stirne, die heute noch zu sehen sind. Dreimal geriet es in fremde Hände, und jedesmal kehrte es von selbst zu Pater Johannes Chrisostomus zurück, so berichtet Pater Rufinus Badensis. Nach mancherlei Fährnissen kam das Kindlein endlich im Jahre 1650 nach Salzburg, wo seit 1643 seine erste Besitzerin Maria Euphrosina Oberin des Lorettoklosters war. Hierselbst wird es noch heute als wundertätig verehrt.

Quelle: R. von Freisauff, Aus Salzburgs Sagenschatz, Salzburg1914, S. 188, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 270.