9. Historische Sagen

In vielen Sagen – in diesem Fall muss man wohl eher von Legenden sprechen – wird über historische Ereignisse oder Epochen berichtet. Ob allerdings die Dreifaltigkeitskapelle bei Heilbrunn wirklich die erste christliche Gebetsstätte im Hinterbergertal war oder nicht vielmehr ein ursprünglich heidnischer Kultplatz für die keltische Dreifaltigkeit in Gestalt der drei saligen Frauen, sei dahingestellt. Immerhin stellt die Votivtafel aus der Zeit der römischen Herrschaft über das keltische Königreich Norikum, die bei der Heilquelle Bad Heilbrunn, nur ca. einen Kilometer von der Dreifaltigkeitskapelle entfernt, gefunden wurde, einen Priester und drei (!!!) Quellnymphen dar. Die überlieferte Volkserinnerung dürfte hier eine eindeutig christlich beeinflusste Unschärfe aufweisen. Laut Schleich, 1998, soll sich auch ganz in der Nähe der Dreifaltigkeitskapelle, in der Salza, ca. 100 Meter oberhalb der Einmündung des Krunglerbaches, eine heute nicht mehr auffindbare Thermalquelle befunden haben – auch dies ein Indiz für einen kultisch genutzten Platz.

Die Türkenkriege wie auch die Religionswirren und der Salzschmuggel wurden ebenso überliefert, wie Legenden über die adeligen Grundherren – das sagenhafte „Rittergeschlecht“ der Fötscher ist historisch belegt, das Schloss Grubegg war von 1645 bis 1720 in ihrem Besitz. Das Motiv des selbst zugezogenen Fluches wegen der frevelhaften Abweisung einer Bettlerin finden wir in Sagen sehr häufig, es scheint auch verwandt zu sein mit den Sagen über untergegangene Orte.

Die rätselhafte Sage über das Grimmingmandl beim Bahnbau ist schwer zu deuten. Es dürfte sich um die jüngste Hinterberger Sage handeln, wurde doch die Eisenbahn erst 1877 fertiggestellt, die Sage ist demnach etwa 130 Jahre alt. Sie wird bereits 1895, also weniger als 20 Jahre nach ihrer Entstehung, von Lobenstock als Volkssage aufgezeichnet. Dies deutet darauf hin, dass die Sage unmittelbar während des Bahnbaues, vielleicht noch vor der Fertigstellung, entstand, und zwar in einem dem technischen Fortschritt nicht sehr aufgeschlossenen, konservativen Umfeld. So prophezeiten zu jener Zeit viele bürgerlich romantische Autoren den Untergang der „echten bäuerlichen Volkskultur“ durch die technischen Neuerungen, und namentlich die Eisenbahn wird für den ländlichen Sitten- und Kulturverfall verantwortlich gemacht. Tatsächlich kam es durch die Verkehrserschließung mit der Eisenbahn zu einem plötzlichen Zusammenbruch des gesamten Fuhrwesens und der damit verbundenen Handwerke (Wagner, Schmied, Wegmeister, Schlittenmacher, Sattler). Es ist aus dieser Zeit auch ein plötzlicher Rückgang der Mitterndorfer Bevölkerung um über 5% nachweisbar, vermutlich bedingt Abwanderung infolge Arbeitslosigkeit, der später aber wieder ausgeglichen wurde. So spiegelt diese Sage in symbolischer Form die Stimmung vieler Hinterberger an der Schwelle der Industrialisierung wieder. Interessanterweise kommen ähnliche Sagen auch in anderen Teilen der Alpen und Europas vor, auch hier weichen die alten Berg- und Flurgeister meist vor der Eisenbahn zurück. Anhand dieser Sage können wir vielleicht auch die Entstehung der melancholischen Sagen über die Vertreibung der saligen Frauen oder über die versunkenen Orte verstehen, denn auch hier geht es um das unerwartete und ungewollte Hereinbrechen einer neuen Kultur mit neuen Sitten und Bräuchen über jahrhundelang gepflegte Traditionen. Das löst bei den Betroffenen Verunsicherung, Trauer, Wut, Zukunftsangst und Resignation aus, die sich in solchen Sagen ihren Ausdruck verschafft haben könnten.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch