5.4 Hundert Jahre im Grimming
Vor vielen Jahren sollte in St. Martin am Grimming eine Hochzeit stattfinden. Der Bräutigam war aus St. Martin, ein „Ennstaler“, wie die Leute aus Bad Mitterndorf sagen, die Braut aus „Hinterberg“, wie die Ennstaler die Gegend von Bad Mitterndorf nennen.
Am Hochzeitstag machte sich die Braut in aller Früh allein auf den Weg durch den Pass Stein, um nach St. Martin zur Trauung zu gehen. Unterwegs begegnete ihr ein alter Mann mit weißem Bart, der sie fragte, was sie mache und wohin sie ginge. Sie erzählte ihm, daß sie in St. Martin von einer Hochzeitsgesellschaft erwartet werde, weil dort heute ihre Vermählung stattfinde. Der Alte aber sagte, sie solle mit ihm zum Grimmingtor gehen, er wolle ihr dort einen Schatz zeigen. Nach langem Zögern gab die Braut schließlich doch nach und folgte ihm.
Durch einen Spruch sprang das Tor auf, und sie erblickte in einem großen Saal Gold und Edelsteine, und alles war herrlich. Von den Wänden hingen Goldzapfen herab, und überall glänzte und spiegelte es wie im Himmel. Der alte Mann und das Mädchen durchschritten nun die endlosen Räume, und die Braut konnte sich an all den Schönheiten nicht sattsehen. Nachdem der Alte ihr all seine Schätze gezeigt hatte, führte er sie wieder zum Tor hinaus.
Unterdessen hatten die Hochzeitsgäste samt dem Bräutigam vergeblich auf die Braut gewartet, sie kam nicht. Als sie endlich nach ihrem Aufenthalt im Grimming in St. Martin eintraf, wußte niemand von ihrer Hochzeit, und sie fand auch ihren Bräutigam nicht. Die Leute hielten sie für närrisch und verlachten sie. Daraufhin ging sie zum Pfarrer, doch auch er konnte keine Auskunft geben. Weil sie aber ihr Recht behauptete, schlug er in der Pfarrchronik nach. Dort ersah er, daß vor genau hundert Jahren eine Hochzeit mit einer Braut aus Hinterberg hätte stattfinden sollen, aber die Braut vermisst worden war. Jetzt erst ergab sich, daß sie hundert Jahre lang die Schätze des Grimmings angesehen und um so viel später den Ort der Hochzeitsfeier erreicht hatte.