Geleitschreiben
für die
„Mythen und Sagen aus dem steirischen Hochlande“.

Auf die tiefgehende Bedeutung und den hohen Wert von Volksmärchen, Mythen und Sagen hinzuweisen, bedarf es heutzutage wohl nicht mehr besonderer Worte. Darauf haben die Brüder Grimm längst in so leuchtender Weise hingedeutet, daß über ihre Stellung im Volksleben und in der Wissenschaft volle Klarheit herrscht.

Dem anregenden Beispiele dieser beiden Bahnbrecher auf deutschem Sprachgebiete folgten nicht wenige Freunde des volkstümlichen Wesens und dessen Verwertung auf literarischem Boden, und es stehen uns jetzt aus verschiedenen Ländern deutscher und slavischer Nationalität reichliche Sagensammlungen zu Gebote. Zumal in österreichs Alpenländern, diesem alten Hort für Mythe und Sage, haben kundige Hände kostbare Schätze gefunden und sachgemäß zu Tage gefördert. Nur unsere Steiermark, die doch an Sagen so reich wie an Erzen ist, mußte bisher einer vollständigeren, umfassenderen und geordneten Sammlung entbehren.

So rufen wir denn mit Recht dem vorliegenden Werke ein frohes „Glück auf!“ entgegen.

Sind wir dem Sammler schon für seine Emsigkeit und Umsicht, dem Herausgeber für den Mut zur Unternehmung zu Dank verpflichtet, so dürfen wir auch mit der Anerkennung nicht zurückhalten, daß er der keineswegs leichten Aufgabe unzweifelhaft gerecht worden ist.

Bei demselben kam hiebei zu der literarischen Befähigung, die er übrigens schon durch mancherlei gelungene Publikationen erprobt hatte, noch der wesentlich förderliche Umstand, daß er vermöge seiner Berufsstellung als Volksschullehrer am Lande dem lebendigen Brunnen der Volksüberlieferung näher stand, als ein städtischer Gelehrte, und daß er nebst seiner Forscherlust die Geduld und den Takt besaß, diese Quellen dienstbar zu machen.

Wie gut ihm dies gelang, zeigt die große Ausbeute in seiner Sammlung, denn überall, wo die Quelle nicht ausdrücklich benannt ist, floß sie ihm persönlich aus der mündlichen Überlieferung.

Es ist übrigens auch in der Steiermark hohe Zeit, diese Denkmäler einer längst verlebten Kulturperiode einzusammeln und vor dem gänzlichen Verlorengehen zu bewahren. Unsere, alle Stände nivellierende realistische Zeitrichtung geht scharf daran, die alten Volksgebräuche, die alten Familien-Überlieferungen, die alte Volkseinfalt und Naivität abzuschleifen und zu vernichten. Wie an den Heerstraßen bereits eine Generation herangewachsen ist, die von den Traditionen aus alter Zeit nichts mehr weiß, weil sie ihm nicht mehr durch lebendigen Mund vermittelt wurde; so wird es nicht mehr lauge dauern, daß auch in den vom Weltverkehre abgelegeneren Tälern der Sinn für die alte Weise und Art erstirbt, jener Sinn, der allein die alten Mythen und Sagen in ursprünglicher Frische durch die Jahrhunderte hindurch bewahrte. Denn, wenn wir auch nicht wissen, wie und wann die lokale Sage entstand, so wissen wir doch, wie dieselbe der Nachwelt erhalten wurde.

Liegt schon viel an dem erzählenden Munde, so doch mehr an dem aufnehmenden Ohre und an dem gutwilligen Gedächtnisse für die Aufbewahrung. Der kindliche Sinn, der einst mit gläubigem Gemüte die Überlieferung der Ahnen übernahm, darf in den Wandlungen des Lebens von seiner Ursprünglichkeit nichts eingebüßt haben, sonst kann er nicht, oder will er vielleicht gar nicht mehr das Überkommen in seiner Echtheit der Nachwelt weiter übermitteln.

So haben sich ja die arischen Urmythen auf neuer Heimatsstätte in ein neues Kleid gehüllt, so hat die christliche Anschauungsweise an den mythischen Kern der Überlieferung neue Elemente angeschlossen, so hat der Aberglaube späterer Jahrhunderte den naturwahren Geist der Vorzeit zum Teile entstellt und verzerrt, und so zerfrißt und zersetzt der frivole Geist der Neuzeit das poetische Gebilde unserer Vorfahren und es bleibt weder ein Stoff für die Erzählung, noch auch der gute Wille für solche.

Es ist daher, wie gesagt, hohe Zeit, dem Verschwinden dieser Denksteine der alten Zeit durch kluges Aufsammeln und Aufspeichern vorzubeugen.

Mit diesem Schatze werden nach drei Seiten hin goldene Früchte geboten, für die heiligen Kinderseelen eine fesselnde Unterhaltung, ein Saatkorn der Heimatliebe und ein Weckruf des poetischen Sinnes, für die gelehrte Welt ein erwünschtes Material zur Kulturgeschichte und Völkerpsychologie, für den wanderlustigen Alpenfreund eine anmutende Belebung der Natur.

Wo Fels und Ruine, Brunnquell und See, Bergeshöhen und Talmulden ihre allen geheimnisvollen Geschichten erzählen, da lauscht wohl jeder gerne, dem ein warmes Herz für sein Land im Busen schlägt, und Denker wie Dichter spinnen den gebotenen Goldfaden weiter zu kunstreichen Geweben zur Freude für sich, zur Bewunderung für Andere.

In diesem Sinne bietet daher auch diese Sagensammlung einen lebendigen Born des Vergnügens und des Nutzens.

Mit diesem Ziele vor dem Auge entstand dieselbe, mit diesem Ziele traf die ordnende Hand die Gruppierung der einzelnen Elemente. Und damit jeder Leser sich diese nach seinen Zwecken leicht zurecht legen kann, wird ihm ein genaues Register zu Gebote gestellt.

Somit können wir das Werk für gelungen erklären. Es wird seinen Weg machen, auch ohne unsere Worte, denn es trägt seine Empfehlung in sich. Wir begleiten es mit den besten Wünschen auch über die heimatlichen Gebirge hinaus zu den Brüdern draußen, denen dieser Alpenblumenstrauß aus dem steirischen Sagenland eben so lieb und wert sein möge, als unser Edelweiß.

Wir wünschen schließlich nur noch, daß der begabte Forscher im Hochlande sich nur die Mühe nicht verdrießen lasse, seinen Blick auch nach dem Unterlande zu richten, um uns seiner Zeit auch von dort eine volle Garbe zu bieten.

Graz, am 1. November 1880.

Dr. Richard Peinlich.

Quelle: Johann Krainz, Mythen und Sagen aus dem steirischen Hochlande, Bruck an der Mur 1880.
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