245. Das Totenbahrziehen.

Manche Leute, die gerne, ohne arbeiten zu müssen, viel Geld gewinnen möchten, bedienen sich zuweilen zu diesem Zwecke des „Totenbahrziehens.“ Dieses besteht darin, daß zwei Männer bei einer Kirche, die nicht mehr und nicht weniger als drei Türen - den Sakristei-Eingang nicht gerechnet - haben darf, am Friedhof mittelst Trage, Sarg und Bahrtuch eine Bahre Herrichten und dann dieselbe in der Mitternachtsstunde, zwischen 11 und 12 Uhr, drei Mal um die Kirche schaffen, wobei Einer die Bahre ziehen, der Andere aber fortwährend mit einer Gerte auf den Sarg schlagen und dabei gewisse Worte murmeln muß, denn diese Totenbahre soll sehr schwer sein, da sich die Seelen aller im Friedhofe ruhenden Verstorbenen auf dieselbe setzen. Gelingt es, die Bahre vor dem Schlag der zwölften Stunde dreimal um die Kirche herumzubringen, so kommt der Teufel mit einem Sack voll Geld und gibt ihn den Totenbahrziehern für ihre Mühe; im entgegengesetzten Falle aber zerreißt er dieselben.

Einmal zogen zwei Männer eine solche Totenbahre. Sie waren noch nicht ganz dreimal um die Kirche gekommen, als die Turmuhr zum Zwölfeschlag zu rasseln begann. Der eine der beiden Männer sprang eiligst über die Friedhofmauer, so daß ihm der Teufel nur einen Zipfel vom langen Rocke abreißen konnte; den Andern zerriß der Teufel wirklich und warf ein Fleischstück davon dem Fliehenden nach, daß derselbe in Folge dessen sein Lebtag einen blauen Flecken am Rücken hatte und stotterte.

Nach Fridolin von Freithal:
„Das Hochgericht im Birkachwald.“

Quelle: Johann Krainz, Mythen und Sagen aus dem steirischen Hochlande, Bruck an der Mur 1880.
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