Die Sage vom Jakobikreuz
Der junge Ritter Wilhelm von Ratmannsdorf war einmal Gast auf der Maßenburg von Leoben, saß dort im Kreis gleichgesinnter Freunde im Rittersaal, wo nach reichlichem Abendessen fleißig der Becher kreiste, und die Würfel rollten. Immer ausgelassener wurde die Runde, immer stärker erhitzte der Wein die Köpfe, und immer höher stiegen die Spieleinsätze. Je weiter die Nacht vorrückte, umso wüster wurde das Gelage. Der Übermütigste war wohl Wilhelm von Ratmannsdorf, der heute Mitternacht seine heimliche Braut, die schöne Barbara von Liechtenstein, aus dem Kloster von Göss entführen wollte. Lange genug hatte sie sich gewehrt, und nur mit Mühe konnte Wilhelm sie zur Flucht überreden. Barbaras strenger Vater hatte ihr einen anderen Bräutigam bestimmt, daher sollte sie bis zur Hochzeit in klösterlicher Obhut verbleiben. Schlag zwölf Uhr nachts sollte Barbara beim geheimen Klosterpförtchen ihren geliebten Wilhelm erwarten. „Sei pünktlich!“, hatte sie ihm bei der letzten Aussprache zugeflüstert, „die frommen Frauen sind zu dieser Zeit in der Kirche zum Gebet versammelt, und kommst du zu spät, so ist die Flucht unmöglich!“
Mitternacht war nahe, noch immer saßen die Ritter beim wüsten Gelage, und vergessen war die Zeit. Ein letzter, hoher Einsatz! Wilhelm hatte wieder verloren! Taumelnd stürmte er aus dem Saal in den Burghof und schrie: „Schnell, mein Ross!“ Und gleich darauf donnerten die Hufe des Pferdes auf der Zugbrücke. Schallendes Gelächter begleitete ihn. Mit wilder Hast, Sporen und Peitsche nicht sparend, brauste Wilhelm den steinigen Burgweg hinab, dass die Funken flogen. Schon war er im Tale, dort stand das Jakobikreuz! Schnell, nur schnell, und wütend stieß er dem scheuenden Rappen die spitzen Sporen in die Seiten. Hochauf bäumte sich das edle Tier, stand auf den Hinterbeinen und wich nicht von der Stelle. Da dröhnte vom Turme der Jakobikirche der erste Schlag der Mitternachtsstunde. Sinnlos vor Wut riss Wilhelm die Armbrust von der Schulter, und mit einem grässlichen Fluch flog der spitze Bolzen zischend ins linke Bein des gekreuzigten Heilands. Und – Blut, rotes Blut floss tropfenweise aus der Wunde! Mit stieren Augen, kaltes Entsetzen im Blick, starrte Wilhelm auf das grause Bild. Eben verhallte der zwölfte Schlag vom Turm und brachte den Ritter zur Besinnung. Vielleicht war es doch nicht zu spät?! Wieder drangen die Sporen in die blutenden Weichen des Pferdes. Pfeilschnell flog jetzt der Rappe mit tollen Sätzen dahin. Noch drei gewaltige Sprünge, und drei Hufeisen fielen nacheinander klirrend zu Boden. Ein letzter Satz – stolpernd fiel der Rappe nach vorne, raffte sich auf, stieg blitzschnell in die Höhe, und im nächsten Augenblick überschlug er sich nach rückwärts, den tollen Reiter unter sich begrabend. Die Erde öffnete sich plötzlich und verschlang Ross und Reiter.
Quelle: Auszug aus „Was die Heimat erzählt“ Steirische Heimathefte, Heft 4
Email-Zusendung Andy, März 2024