DAS LAHNWABERL

In der mittleren Steiermark, besonders im Westen, treibt ein Kobold in Weibsgestalt, das Lahnwaberl, sein Unwesen. Das Lahnwaberl war bei Lebzeiten eine Zauberin und besaß ein Schloß, das soll aber in der Lahn, einem sumpfigen Fluß, versunken sein, und seither erscheint sie öfters in dieser Gegend, besonders um Groß-Florian. Bei Tage zeigt sie sich in altertümlicher Tracht mit einem Schlüsselbund am Gürtel; manchmal erscheint sie auch ohne Kopf, in der Nacht aber nicht selten als wanderndes Licht.

Häufig sieht man sie an Stegen, die über Sümpfe führen. Da verstellt sie den Leuten, die hinübergehen wollen, den Weg und hält ihnen einen Blumenstrauß unter die Nase und ruft: "Schmeck, schmeck!" Riecht man dann, so verwandeln sich die Blumen in Dornen, und man sticht sich tüchtig in die Nase. Wenn ein Wagen auf der Straße fährt, so setzt sich das Lahnwaberl hinauf und macht ihn so schwer, daß er kaum von der Stelle zu bringen ist. Den Leuten, die zur Mühle fahren, macht der boshafte Geist die Säcke auf, ohne daß sie es bemerken, so daß die Körner herausfallen und die Säcke halb leer in die Mühle kommen.

Einmal wollte ein Bub, der aus der Schule ging, in der Laßnitz Krebse fangen. Er erwischte auch bald einen recht großen, steckte ihn in seinen Schulsack und lief voll Freude nach Hause. Aber der Sack wurde immer schwerer und schwerer, so daß ihn der Bub nicht mehr tragen konnte. Es wurde ihm dabei angst und bange, er wußte sich aber nicht zu helfen, warf die Last weg und lief davon. Als er dann zurückschaute, sah er, daß eine menschliche Gestalt aus dem Sack herauskam. Das war niemand anderer als das Lahnwaberl.

Überhaupt hat es der heimtückische Kobold auf Kinder abgesehen, besonders auf ungetaufte, wenn sie zur Taufe gebracht werden. Mit List und Gewalt sucht er den Säugling in seine Hände zu bekommen und verschwindet dann mit ihm im Wasser.

Einmal sah ein Bursche, wie das Lahnwaberl unter einer großen Fichte auf einer ausgespannten Plache Geld ausbreitete. An jeder Ecke der Unterlage stand ein schwarzer Hund und bewachte den Schatz. Da hörte der Bursche, wie sie sagte: "Faß an, laß aber nichts zurückfallen!" Er wußte, daß diese Worte ihm galten, aber er getraute sich nicht, der Stimme zu folgen, und ging weiter. Plötzlich hörte er hinter sich ein Getöse und Gejammer, ihm selbst geschah aber nichts. Er erzählte sein Erlebnis weiter, und ein paar furchtlose Burschen beschlossen, den Schatz unter dem Fichtenbaum zu heben.

Sie machten sich an das Werk, es war aber vergebens. Erst als sie ein zweites Mal gruben, stießen sie auf Geld, das in einem Fasse lag. Sie holten ein Seil und fingen an, das Faß daran festzumachen. Da rief einer von oben: "Habt ihr es schon?", und einer in der Grube antwortete: "Ja." Da versank plötzlich das Faß mitsamt dem Seile so tief in die Erde, daß keine Spur mehr davon zu sehen war.


Quelle: Götter- und Heldensagen, Genf 1996, Seite 629