DER WILDSEE AUF DEM ZIRBITZKOGEL

Dort, wo heute der Wildsee am Zirbitzkogel seine stillen Gewässer ausbreitet, stand vor Zeiten ein Bergkirchlein, in dem die Senner und Sennerinnen der umliegenden Almen an Sonntagen eine Messe hören konnten. Einmal aber geschah es, daß die Burschen und Mädchen in ausgelassener Stimmung in der Kirche ein Trinkgelage abhielten und in ihrem Übermut zum Klang der Glocken und der Orgel in den heiligen Hallen zu tanzen anfingen. Als das wüste Treiben seinen Höhepunkt erreicht hatte, erschien eine unbekannte alte Frau in der Kirche, die ein Gefäß mit Wasser trug. Sie verwünschte das freche Treiben der jungen Leute und begann das Wasser, das ohne Unterlaß dem Gefäß entströmte, in der Kirche auszugießen. Das Wasser stieg immer höher und höher, alle Frevler kamen darin um, und das Kirchlein selbst versank in den Fluten des Sees, der sich an der Stelle bildete, wo die Kirche gestanden war. Nur die Spitze des Kirchturms ragte ein wenig über den Seespiegel empor.

Nach vielen Jahren wurde einem frommen Landwirt die Kunde zuteil, daß das Kirchlein von zwei Stieren, die von einer Kuh auf einmal geworfen und von ihr durch sieben Jahre gesäugt würden, aus dem See gezogen werden könne. Als bald darauf eine seiner Kühe zwei Stierkälber warf, faßte er den Entschluß, mit ihnen die Kirche aus den Wasserfluten zu heben. Er beauftragte seine Magd, die ganze Milch der Kuh den beiden Stieren zu belassen und die Kuh nie zu melken, weil nach der Prophezeiung den Stieren kein Tropfen Muttermilch entzogen werden durfte.

Die Magd befolgte den Auftrag des Landwirtes bis zum letzten Tag des siebenten Jahres. An diesem Tag vergaß sie darauf und molk die Kuh. Am nächsten Tag wurden die beiden Stiere feierlich zum Wildsee geführt. Eine lange Kette wurde um die Turmspitze geschlungen und mit dem Ochsengespann verbunden. Unter erwartungsvoller Stille des herbeigeeilten Volkes begannen die beiden Stiere ihre Arbeit und das Kirchlein hob sich ruckweise immer mehr und mehr aus dem Wasser. Schon zeigte sich die Schwelle der Kirchentür, und es bedurfte nur mehr eines kleinen Ruckes, um die Kirche ganz aus dem Wasser zu ziehen - da erlahmten die Kräfte der Tiere, da ihnen aus Verschulden der leichtsinnigen Magd am letzten Tag die Milch entzogen worden war.

Langsam sank die Kirche wieder ins Wasser zurück, immer tiefer und tiefer, bis auch die Turmspitze im Wasser verschwand. So ruht sie nun auf dem Grund des Sees, und kein Menschenauge wird sie je wieder erblicken.

Unergründlich tief sind die Wasser des Wildsees, und friedliche Ruhe herrscht zumeist in seinen dunklen Fluten. Manch einer weiß aber von sonderbaren Gestalten zu erzählen, die von Zeit zu Zeit im See ihr Wesen treiben.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 110