Die Weiße Frau am Schöckl
Als einst ein Bauernbub an den Hängen des Schöckls seine Schafe hütete, stand plötzlich eine hohe, weiße Frauengestalt vor ihm. Der erschreckte Bub wollte weglaufen, aber Furcht lähmte seine Beine.
„Fürchte nichts!" sagte die Frau. „Ich will dich reich und glücklich machen, aber du mußt tapfer sein."
Ihre Augen strahlten wie das Blau des Himmels, und in stiller Bitte hob sie die Hände, die in weißen Handschuhen steckten. So ein dummer Hüterbub weiß noch nichts von guten und bösen Geistern, von blauen Lichtern über verborgenen Schätzen und auch nichts von verwunschenen Seelen, die auf Erlösung warten. Mag sein, daß der Seppl die Bewegung der weißen Frau mißdeutete, er sprang auf und flüchtete wie ein Wiesel den Hang hinab, und die Schafe in wildem Rudel hinter ihm her.
Zu Hause angekommen, fand der Bub seine Sprache wieder. Er erzählte dem Vater, was er auf dem Schock! erlebt hatte.
„Du dummer Bub", schimpfte der Bauer. „Nur eine weiße Frau, die schwarze Handschuhe anhat, bringt Unglück oder Tod, trägt sie aber weiße, hast du nichts von ihr zu fürchten. Wärest du nicht weggelaufen, könntest du jetzt mit einem Schlag reich sein."
Am nächsten Tag blieb der Seppl daheim, der Bauer selbst trieb seine Schafe auf die Weide am Schöckl. Er blickte sich nach allen Seiten um ohne die weiße Frau zu entdecken.
Doch plötzlich stand sie vor ihm. Kein Tritt war auf dem Boden zu hören gewesen, nur einen leisen Wind hatte der Mann verspürt. Dem Bauern wurde nun doch ein wenig bang ums Herz.
Die weiße Frau richtete die gleiche Frage an ihn, die sie dem Halterbub gestellt hatte.
„Mit Verlaub! Vor dem Reichsein fürchte ich mich nicht!" antwortete der Bauer. „Du wirst allen Mut deines Herzens benötigen, um standhaft zu bleiben", sprach die weiße Frau.
„Als Schlange werde ich dir erscheinen mit einem goldenen Schlüssel im Rachen. Wenn du mir den Schlüssel entreißt, bin ich erlöst. Der Schlüssel aber wird dir die Tür zum Schöcklschatz öffnen."
„Ich will alles tun, wie Ihr es wünscht", sagte der Bauer. Noch einmal blickte ihn die Frau an, dann verschwand sie wie ein Rauch, mitten hinein in eine Felswand. Ehe die Sonne einen Schritt westwärts getan hatte, blies ein Sturm schwarzes Gewölk über dem Schöckl zusammen, Blitze zuckten durch die Luft, und Donner rollte über den Berg.
Das Gewitter konnte den Bauern nicht schrecken, als aber eine Riesenschlange die weiße Wand heruntergekrochen kam, da vergaß der Mann sein Versprechen. Nicht um alle Schätze der Welt wollte er länger bleiben,- er schlug ein Kreuz über Stirn, Lippen und Herz und nahm Reißaus wie sein Bub. Die Schafe sprangen hinter ihm drein, und in ihr Blöken tönte ein Schluchzen aus dem Gewand. So muß die Frau wieder hundert Jahre auf ihre Erlösung warten. Es ist bisher nichts vermeldet worden, daß ein anderer der Schlange den Schlüssel entwunden hätte.
Quelle: Maria Pacolt, Die Goldene Leiter.
In: Annemarie Reiter (HG.), Grazer Sagen und Geschichten, Graz 1996, S. 170.