DER BERGSPIEGEL DES VENEDIGERMÄNNCHENS
Zu einem Bauern in Landschach bei Knittelfeld in Obersteier kam eine
Reihe von Jahren hindurch ein kleines Männchen, das seiner Sprache
und seinem Aussehen nach ein Welscher war und insgemein von den Leuten
das "Venedigermandl" genannt wurde. Es hielt sich stets einige Tage beim
Bauern auf, und da es für die ihm freundlich gewährte Unterkunft
immer eine reichliche Belohnung hinterließ, war das Männchen
jedesmal ein gern gesehener Gast.
Man wußte nicht, woher der Welsche war, und was ihn in die Gegend
führte; auffällig nur war es, daß er zur Mitternachtszeit
auf dem hinter dem Wohnhause befindlichen Krautacker umherwandelte und
auch jedesmal, wenn er abreiste, mehrere schwerwiegende Säcke mitnahm,
während er doch, wenn er kam, nichts bei sich hatte als das, was
er am Leibe trug.
Als einst der alte Hofhund verendete, der das Haus bewacht hatte, sah
der Bauer sich genötigt, einen anderen herbeizuschaffen. Dieser aber
war sehr bösartig; nur das Hausgesinde ließ er ungeschoren,
alle übrigen Leute aber mußten sich vor ihm in acht nehmen.
Als nun der Welsche wiederkam und zur Mitternachtszeit sich auf den Krautacker
begab, wäre er vom Hunde bald in Stücke zerrissen worden; nur
des Bauers Dazwischenkunft, der auf den Hilferuf des Welschen zur Stelle
geeilt war, rettete ihn. Der Welsche verlangte vom Bauern die Entfernung
des böswilligen Hundes. Da aber dieser hierin nicht einwilligte,
so erklärte jener, nicht mehr zu kommen. Und wirklich reiste der
Welsche noch zur selben Stunde ab und ließ sich nicht mehr in der
Gegend blicken.
Jahre waren vergangen. Der Bauer fühlte das religiöse Bedürfnis,
eine Wallfahrt zu unternehmen. Er pilgerte zum Luschariberge, und nachdem
er seine Andacht verrichtet hatte, gelüstete es ihn, eine Reise ins
Welschland zu machen, um fremde Gegenden und Ortschaften besichtigen zu
können.
Palast, Detailansicht, Venedig
© Berit
Mrugalska, Mai 2002
Er kam auch in eine Stadt, die sehr reich an großen und schönen
Palästen war. Unter den letzteren fiel ihm besonders ein stattliches
Gebäude auf, das sich durch die Pracht seiner Bauart vor allen anderen
Häusern der Stadt auszeichnete. Er staunte dasselbe eine Weile an.
Mit einem Male klopfte ihm jemand auf die Schulter; es war ein Fremder,
wie ein Bedienter gekleidet, der den Bauern einlud, ihm in das Haus zu
folgen. Der Bauer zögerte anfangs, der Aufforderung zu folgen; doch
bald überwog die Neugierde das Mißtrauen, und er ging seinem
voranschreitenden Führer nach. Der Diener führte ihn über
breite Marmortreppen und durch prachtvolle, mit kostbaren Statuen und
Bildern gezierte Gänge und Säle in ein kleines Zimmer, in welchem
der Herr des Hauses den Erstaunten auf das freundlichste bewillkommnete.
Wie verwunderte sich nun der Bauer, als er in dem fremden vornehmen Herrn
den Welschen erkannte, der früher so oft nach Landschach gekommen
war, und sich zur Mitternachtszeit auf den Krautacker begeben hatte. Der
Eigentümer des Hauses zeigte dem Bauern alle seine Schätze und
lud ihn hierauf zu Tische. Während der Mahlzeit erzählte er
seinem Gaste, daß sein ganzer Reichtum aus Landschach, und zwar
von des Bauers Krautacker herstamme, und sagte: "Wenn ihr diesen Krautacker
näher kennen würdet, hättet ihr es nicht mehr nötig,
euch zu plagen!"
Dies schien nun dem Bauern unglaublich, der Herr aber versprach, ihn von
der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen und führte ihn in
ein kleines Zimmer, in dem sich nichts als ein mittelgroßer Spiegel
in einfacher, vergoldeter Einrahmung befand. "Seht da in diesen Spiegel
hinein, und dann werdet ihr gewiß meinen Worten vollsten Glauben
schenken!" sprach der Hausherr.
Der Bauer tat, wie ihm der Herr gesagt hatte, und erstaunte gewaltig,
als er anstatt seines Bildes eine Landschaft erblickte; er erkannte im
Spiegel die Ansicht der Gegend, in welcher er sich befand. Aber sein Erstaunen
wurde immer größer, als dieses Spiegelbild nicht gleich blieb,
sondern sich veränderte und stets neue Ansichten darbot. Es waren
dies lauter ihm bekannte Bilder; er erkannte die Gegend vom Luschariberg
und die Gegenden, die er auf seiner Wallfahrt durchwandert hatte, er erblickte
das freundliche Städtchen Knittelfeld an der Mur, sein Heimatdorf
Landschach und schließlich sein Wohnhaus samt den Stallungen und
den herumliegenden Grundstücken. Das Bild im Spiegel blieb nun ein
vollständiges und der Bauer konnte darin ersehen, was sein Weib und
seine Kinder und sein Hausgesinde eben taten; auch die Erde seines Krautackers
sah er, und zwar stellenweise mit goldglänzenden Körnlein vermischt.
Der Hausherr erklärte nun, daß dieser Spiegel ein sogenannter
"Bergspiegel" sei, der seinem Besitzer selbst die verborgensten Schätze
anzeige. Dem Bauern schien das Ganze nur ein Traum, er drückte seinen
Zweifel in Worten aus. Darauf aber erwiderte der Hausherr: "Ich sehe,
daß du mir noch immer keinen Glauben schenkst; doch du wirst mir
glauben, wenn du wieder nach Hause kommst! Siehst du im Spiegel den bösartigen
Hund, der mich von dir vertrieben hat? Erlaubst du mir es, ihn auf der
Stelle zu töten?"
Der Bauer gab seine Zustimmung dazu und blickte sodann unverwandt in den
Spiegel, während der Herr des Hauses eine Pistole in die Hand nahm
und durchs Fenster abschoß. Der Bauer sah ganz deutlich, wie der
Hund vor der Haustür lag, aufsprang, dann umfiel und verendete. Es
wurde ihm unheimlich zumute und er trachtete, sobald als möglich
aus dem Hause zu kommen. Der vornehme Welsche erkannte, was der Bauer
wollte. Er drückte ihm einen großen Beutel Dukaten in die Hand
und verabschiedete sich freundlich.
Der Bauer machte sich auch alsbald auf den Heimweg und nach einigen Tagen
hatte er sein Dorf und sein Haus erreicht. Er erfuhr nun, daß sein
Hund von einem unbekannten Täter meuchlings erschossen worden war.
Der Bauer fragte um Tag und Stunde, wann dies geschehen, wie auch um die
Stelle, wo der Hund verendet sei. Als man ihm dies gesagt, stimmte alles
merkwürdigerweise mit seiner Anwesenheit bei dem ihm bekannten reichen
Welschen und mit dem bei diesem Erlebten zusammen. Er glaubte nun auch
den Aussagen des seltsamen Welschen betreffs des Krautackers und wollte
aus diesem ebenfalls goldene Schätze heben, fand aber nur geringe
Ausbeute.
Der Bauer kannte eben die Scheidekunst nicht, auch fehlte ihm der hiezu
so notwendige Bergspiegel.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911