DER ENGEL VOM PALTENTAL
Im Städtchen Rottenmann wurde einmal ein Mädchen geboren, welches in der hl. Taufe den Namen Agnes erhalten hatte. Aus dem Kinde wurde später eine wohltätige fromme Jungfrau, die den Leuten sehr viel Gutes tat und allgemein der Engel vom Paltental genannt wurde. Einmal wurde sie von ihren Verfolgern und Feinden - welcher gute Mensch hätte nicht auch solche! - gefangen genommen und in einem Gemache auf dem Schlosse Strechau eingesperrt. Zwar vergoß hier die nun ihrer Freiheit und der Gelegenheit zur Austeilung von Wohltaten beraubte Jungfrau zahlreiche Tränen, aber sie vertraute auf Gott; später wurde sie dann auch wirklich aus ihrer Gefangenschaft befreit und trat dann in das Frauenkloster Göß ein, wo sie auch als fromme Nonne verblieb bis zu ihrem Tode.
"1279 - 2004 - 725 Jahre Stadt
Rottenham"
personalisierte Briefmarke, Österreich € 0.55
Privatsammlung Wolfgang
Morscher
Nun lebte zur selbigen Zeit, es war dies am Anfange des 17. Jahrhunderts,
im Städtchen Rottenmann eine arme Familie. Der Vater war Holzfäller
gewesen und einst bei seiner schweren Arbeit von einem fallenden Baume
getötet worden. Der armen Mutter und ihren vier kleinen Kindern ging
es nun recht schlecht; sie hatten nicht einmal Brot genug und mußten
so das größte Elend erdulden.
In einer Nacht stand die Mutter, welche samt ihren Kindlein den ganzen
Tag nichts zu essen gehabt hatte, vom Bette auf, kniete am Fenster, durch
welches man auf das Schloß Strechau sah, nieder und betete. Plötzlich
sah sie in der Höhe einen schönen Stern, hell und klar, und
als sie genauer hinsah, bemerkte sie, daß es kein Stern sei, sondern
ein Glanz, welcher gerade vom letzten Fenster in der Ecke des Schlosses
kam. In der darauffolgenden Nacht sah die Mutter abermals betend zum Fenster
hinaus, und da war der Glanz noch viel schöner und heller, und so
war es auch in der dritten Nacht. Da beschloß sie, ins Schloß
zu gehen und zu sehen, was das für ein Glanz sei.
Also machte sich die Mutter in frühester Morgenstunde, da ihre Kinder
alle mitsamt noch schliefen, auf und ging nach Strechau, welches Schloß
damals unbewohnt war. Als sie zum Schloßgitter gelangte, stand davor
ein wunderliebes Mägdlein, grüßte freundlich die arme
Witwe und führte sie über den einsamen Schloßhof hinauf
in das zweite Stockwerk zu einer großen Tür. Als die Witwe
durch diese in ein großes Gemach eintrat, mußte sie mit beiden
Händen ihre Augen zudecken, denn sie konnte den Glanz nicht ertragen,
der hier das Zimmer erhellte.
Im Gemache befanden sich zwölf wunderschöne Jungfrauen, welche
um einen glänzenden Thron standen, darauf eine andere Jungfrau in
weißem wallenden Gewande und mit einem weißen Schleier über
dem Gesichte saß. Auf dem Boden aber lagen viele glänzende
Steinchen, gerade so wie die leuchtenden Sternlein am Himmel. Diese schimmernden
Steinchen sammelten die zwölf Jungfrauen vom Boden auf und machten
aus ihnen eine gar herrliche Krone, welche glänzte und funkelte wie
Tauperlen und Edelgestein. Sodann nahmen sie der Jungfrau auf dem Throne
den Schleier vom Gesichte und setzten ihr die Krone auf. Diese holde Gestalt,
welche noch viel schöner war als die anderen Jungfrauen, stand nun
vom Throne auf und sagte zur armen Holzfällerwitwe, die von dem ungeheuren
Glanze geblendet, immer wieder mit den Händen über die Augen
fuhr: "Sieh', dort liegen noch Perlen; nimm sie, lebe samt deinen Kindern
davon!"
Aber die Witfrau konnte vor Entzücken gar nicht von der Stelle. Da
bückten sich die zwölf Jungfrauen, hoben die Perlen vom Boden
auf und taten sie der Witwe in den Schoß.
Darauf wurde das Gemach weit und licht wie ein Feuermeer; die Decke ging
auseinander und die gekrönte Jungfrau und auch die anderen zwölf
jungfräulichen Gestalten erhoben sich in die Luft und fuhren in den
Himmel auf.
Das Mägdlein aber geleitete die Witwe wieder aus dem Schlosse und
sagte zu ihr: Diese schöne Jungfrau mit der Edelsteinkrone war Agnes,
der Engel vom Paltental, welche vor drei Tagen im Nonnenkloster zu Göß
gestorben ist; die Perlen und Edelsteine, aus denen die wunderherrliche
Krone gebildet ist, sind die Tränen, die sie hier in dem gleichen
Zimmer während ihrer Gefangenschaft geweint und Gott aufgeopfert
hat."
Nach diesen Worten verschwand das Mägdlein. Die Witwe aber ging zu
einem Goldarbeiter und verkaufte ihm einige der Perlen, wofür sie
so viel Geld erhielt, daß sie und ihre Kinder nun alle genügsam
leben konnten. Aus den übrigen Steinchen und Perlen aber ließ
sie ein Kreuzlein machen, welches das "Tränenkreuzlein" genannt und
von allen Leuten bewundert wurde, weil man noch nie so wunderschöne
Edelsteine und Perlen gesehen hatte.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911