DER JUNGFERNSPRUNG
Dort wo das enge Murtal sich in die Ebene von Graz erweitert, erhebt sich am rechten
Ufer des Stromes über dem bewaldeten Felsen eines von Westen nach Osten sich
erstreckenden Gebirgsarmes die altersgraue Ruine der Burg Gösting. Wenige Schritte
davon, auf der Nordseite, fällt der Fels steil ab und diese Stelle heißt der
Jungfernsprung. Ritter Wulfing von Gösting, der Letzte seines Stammes, hatte zwei
Töchter. Die eine, namens Katharina, war an den Ritter von Thal vermählt, um Anna,
die zweite Tochter, aber bewarben sich zwei Ritter, und da der Vater keinen derselben
bevorzugen wollte, so sollten nach damaliger Sitte die Waffen entscheiden.
Auf dem Turnierplatze der Burg, welcher noch heute der Lindgarten genannt wird,
fand der Kampf statt, wobei der eine Ritter vom Schwerte seines Gegners schwer
getroffen wurde. Entsetzt über den tödlichen Ausgang des Kampfes rannte das
Ritterfräulein auf die nahe Felsenspitze und stürzte hier in die furchtbare
Tiefe hinunter. Die Mur, welche damals noch den Fuß des Felsens bespülte,
schwemmte den zerschmetterten Leichnam der unglücklichen Anna von Gösting an
das jenseitige Ufer, wo ihn Landleute fanden und hinauf in das Schloß trugen.
Als der alte Ritter die Unglücksnachricht erfuhr, stürzte er vom Schlage gerührt
zur Erde. Seitdem heißt der steile Fels der Jungfernsprung, und aus seinen Ritzen
sprossen liebliche Aurikeln und andere schöne Blümchen, die einst das unglückliche
Ritterfräulein mit seinem Herzblute befeuchtet hatte.
Die gleiche Sage knüpft sich auch an den südlich von Fernitz gelegenen und an
einer Stelle gegen die vorbeifließende Mur sehr schroff abfallenden Murberg, über
dessen Wand ein Edelfräulein von dem früher hier in der Nähe gestandenen Schlosse
Murberg den Todessprung gewagt hatte.
Bei Peggau heißt eine senkrechte Wand der Frauensprung. Über dieselbe sprang die
Gattin eines Besitzers der Silberbergwerke von Rabenstein und Feistritz, als sie
in Abwesenheit ihres in den Krieg gezogenen Gemahls von einem der eingedrungenen
Hunnen bedroht worden war, hinab in die vorbeifließende Mur, deren Wellen die
Bewußtlose ans gegenseitige Ufer trugen, wo sie bald wieder zu sich kam; kurz
darauf fand sie auch ihren schon totgeglaubten Gatten wieder, mit dem sie nun
in ihren auf der einsamen schmalen Bergebene hinter der steilen Wand gelegenen Wohnsitz
heimkehrte.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911