DER LINDWURM VON INGERING
In der grauen Urzeit bildeten die Gegenden Ingering, Gail, Buchschachen und Graden nächst Seckau einen
See, aus dem nur einzelne Hügel emporragten und kleine Eiländchen bildeten. Der See war ringsum von hohen Bergen umdämmt und hatte nur am nunmehrigen Hammergraben, einer engen, waldigen Schlucht, seinen Abfluß. Dort zeigte sich ein Lindwurm, der nicht nur dem Vieh, welches hier zur Tränke ging, sondern auch den Bewohnern der umliegenden Gegenden sehr gefährlich war. Die Fischer waren nie sicher, von dem Untiere überrascht zu werden und gaben deshalb ihren Erwerb gänzlich auf; auch die übrigen Leute, als: Jäger, Holzfäller und Hirten, mußten die größte Vorsicht gebrauchen, da der Lindwurm trotz seiner Unbehilflichkeit zuweilen aus dem See ans Land kroch und die Beute überlistete.
Da beratschlagten die bedrohten Bewohner unter sich, wie der gefährliche Wurm zu töten oder doch wenigstens zu vertreiben wäre. Gewöhnlich hielt sich das Untier in der Nähe des Erdwalles, wo der See sehr schmal, dafür aber unermeßlich tief war, auf. Dorthin brachte man ihm seine Nahrung, auf daß es ja nicht den Platz verlasse.
Während nun der Lindwurm in träger Ruhe lag, versammelten sich die mannhaften Bewohner der Berge zum gemeinnützigen Werke. Es wurden Waldbäume gefällt und an enger Stelle in den Seeboden getrieben; dieser Damm, sowie das Ufer wurden dann mit Felsstücken verrammelt und so der sichergewordene Feind vom größeren Teile des Gewässers abgesperrt. Gleichzeitig wurden rings um den See riesige Mengen von Brennmaterial aufgehäuft.
Nachdem man diese Vorkehrungen getroffen hatte, wurde eines Tages dem Lindwurme zum Fraße ein Stier hingelegt. Bald erschien das Untier und verschlang gierig die Beute. Währenddem aber zündeten die Alpenbewohner die um den See angehäuften Holzvorräte und Reisigbündel an, erhoben nach der damaligen Sitte ein furchtbares Schlachtgeschrei und schlugen heftig mit den Schwertern an ihre ehernen Schilder, so daß der Widerhall selbst alles Geflügel in den höher gelegenen Gehöften aufscheuchte.
Darob stutzte auch der Lindwurm und wollte zurück gegen die Mitte des Sees schwimmen, aber vergebens, denn die Glut und der Rauch hinderten ihn daran. Nun rollten die wackeren Gebirgsbewohner von den steilen Höhen herab dem gräßlichen Riesenwurme große Felstrümmer an den Leib, so daß er laut brüllte und wütend wurde. Immer näher drängten ihn der Rauch und das Feuer gegen den Erdwall. Da durchbrach er diesen und die entfesselten Fluten strömten, das Untier mit sich fortschwemmend, durch das Engtal, entwurzelten Bäume und rissen mächtige Felsblöcke mit sich fort. Als die Wasserwogen bei der Einmündung des Ingeringgrabens in das Murtal sich über die Felder, Wiesen und Auen des letzteren ergossen, blieb der Lindwurm, ganz betäubt vom Andrange der Wellen und dem Anpralle der riesigen Felsentrümmer und Baumstämme, mitten im Tale liegen. Er wurde dann von den Talbewohnern mit großen, stacheligen Knütteln angegriffen; mit vereinten Kräften schlugen sie auf den noch immer furchtbaren Feind los, bis er ihren gewaltigen Streichen erlag und mit seinem Blute das Feld rötete.
Der Ort, wo der Lindwurm getötet wurde, heißt Lind; die Talbewohner aber, die denselben erschlagen hatten, erbauten sich in dieser gesegneten Ebene des Murbodens ein Städtchen, nannten es zur Erinnerung an ihre Heldentat Knittelfeld und nahmen in ihr Wappen drei knorrige Knüttel im blutroten Felde auf. Den größten Gewinn von der Vertreibung dieses Untieres aber hatten die Gebirgsbewohner, welche durch das Ablaufen des Sees gutes Acker- und Weideland erhielten.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911