DER SCHLOßVOGT VON STEIN
Der Herr der hochgelegenen Burg Stein nächst Teuffenbach im Obermurtale hatte, da er für den Kaiser in den Krieg ziehen mußte, einen Vogt bestellt, der für alles im Schlosse sorgen sollte. Dieser aber tat nichts von dem, was ihm der Herr aufgetragen hatte, sondern herrschte grausam und willkürlich und verübte viele Greueltaten. Als der Schloßkaplan, ein greiser Priester, ihm sein schändliches Treiben vorhielt, trieb ihn der Vogt mit Schimpf und Spott vom Schlosse. Der ehrwürdige Mann grämte sich darob sehr, daß er bald darauf starb. Seine Leiche wurde auf einem kleinen Kirchhofe vor der Burgkapelle begraben. Bald darauf sahen die Leute um Mitternacht am Grabeshügel, der die Gebeine des Schloßkaplans deckte, eine gespenstische Erscheinung knien, die ganz dem Vogte glich. Man glaubte sich zu täuschen, denn man wußte ja, daß zur selben Zeit der Vogt oben im Schlosse mit seinen Kumpanen beim Zechgelage verweile. Und doch wurde die Erscheinung alltäglich um Mitternacht bemerkt. Die Kunde von diesem Spuke drang weiter und kam auch dem auf der Heimkehr begriffenen Burgherrn zu Ohren. Dieser lud den Vogt, über dessen Aufführung ihm so viele Klagen vorgebracht worden, in der mitternächtigen Stunde zu einem Gange vor das Schloß ein. Sie gingen durchs Tor hinüber zur Kapelle. Da erblickte der Vogt mit Schaudern sich selbst in häßlicher Gestalt auf dem Grabe des Priesters knien. Erschüttert stürzte er zur Erde. Die Spukgestalt, sein Doppelbild, verschwand, und als der Schloßherr den Knechten befahl, den Vogt vom Boden aufzuheben, war dieser eine Leiche.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911