DER TOTE SCHNEE
Auf dem Dachstein gibt es mehrere "verwunschene" oder "verschniebene"
Almen. Eine davon ist das Karls-Eisfeld, eine andere das Gosauer-Eisfeld,
und eine dritte, ein muldenförmiges Gletschereis, heißt "der
tote Schnee". Letztere war einst in der guten, alten Zeit eine der besten
und ausgiebigsten Alpenweiden weit und breit umher. Es wuchs daselbst
das Gras so üppig und fett, daß die Kühe außerordentlich
viel und ausgezeichnete Milch gaben. Die Brenntlerin konnte bald die ganze
Alpenwirtschaft allein gar nicht mehr besorgen, so viel hatte sie zu tun,
und nahm deshalb noch einige junge, arbeitsflinke Dirnen in den Dienst.
Dessenungeachtet gab es immerhin noch alle Hände vollauf zu tun.
Es wurden Butter und Schmalz, Käse und Schotten in solcher Menge
erzeugt, daß die Brenntlerin, welche zugleich Eigentümerin
der Alm war, gar nicht wußte wohin und woaus damit.
Und weil es ihr gar so gut ging, so verfiel die Brenntlerin in den Erbfehler
der Menschen, sie wurde übermütig.
Einst ging ein starkes Gewitter über den Dachstein nieder, und die
angeschwollenen Wildbäche rissen die Stege und Brücken hinweg.
Die Mägde fragten die Brenntlerin, ob sie hinüber in den Holzschlag
gehen sollten, um die Holzfäller herbeizurufen, auf daß sie
die Brücken wieder herstellten. Darauf sagte die Brenntlerin: "Ach
was, wir brauchen keinen Holzknecht, wir nehmen kein Holz mehr! Wir bauen
uns unsere Brücken selbst, und zwar aus purem Käse und Schotten."
Wie gesagt, so getan! Die Brücken wurden wirklich nur aus bestem
Käse und aus vortrefflichen Schotten hergestellt und dazu noch extrafeine
Butter verwendet, auf daß ja die einzelnen Teile gut und fest aneinanderhielten.
Aber als der letzte Steg fertig gebracht worden war, ereilte die Strafe
des Himmels die Frevlerinnen, welche die herrlichen Gottesgaben so sündhaft
vergeudeten.
Dachstein (Steiermark)
Bildarchiv
SAGEN.at, Nr. 27370
Die ganze Alpe versank. Ewiger Schnee bedeckt seither den so ergiebig
gewesenen Grasboden; auch die Hütte verwandelte sich in einen festgefrorenen
Schneehaufen, und die Brenntlerin mitsamt ihren Dirnen und ihrem Vieh
wurden gleichfalls zu Eis.
So die Sage von der untergegangenen Alpe auf dem Dachstein, im Volksmunde
genannt "der tote Schnee".
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911