DIE RÖMERGEISTER
Über das Leibnitzerfeld wanderte ein rüstiger Bursche mit wettergebräuntem Gesichte und mit einem Stabe in der Hand. Er hatte ein liebes Mütterchen, eine treue Schwester verlassen und war in den Türkenkrieg gezogen, um seinem Kaiser den Sieg erkämpfen zu helfen, aber sich dabei auch Reichtümer zu erwerben, auf daß er dann daheim den Seinen ein sorgenfreies Leben zu bereiten imstande wäre. Wohl hatte der Bursche manch harten Strauß mitgefochten, so manchem Türken den Kopf gespalten, nicht aber war es ihm auch gelungen, Schätze zu erobern. Müde von dem langen Marsche, setzte er sich auf einem kleinen Hügel, den die weiten Äste eines Baumes beschatteten, nieder und entschlief. Da klopfte ihm jemand leise auf die Schulter. Der Bursche fuhr empor und erblickte vor sich einen Greis, angetan mit einem fremdartigen, faltigen Gewande und voll mildem Ernste im ehrwürdigen Gesichte. Der Alte winkte dem Burschen mit der Hand, und dieser folgte ihm willig. So wanderten beide über mehrere Hügelgräber und stiegen durch eines derselben, das sich geöffnet hatte, ins Innere der Erde. Sie kamen in ein hochgewölbtes Gemach, in einen altertümlichen Saal, in dem viele fremde Männer, in gleicher Tracht wie der Führer, um einen langen Tisch saßen. Diese winkten den erstaunten Burschen freundlich zu sich heran, füllten seine Taschen mit Goldstücken, und einer von ihnen reichte ihm gar einen mit Wein gefüllten Pokal.
Obwohl der Bursche die Sprache, in der ihn die fremden, seltsamen Männer so freundlich anredeten, nicht verstand, deuchte es ihm doch, daß sie lateinisch sprächen, jene Sprache, in der daheim in der Kirche seines Ortes der Priester am Altare das hl. Meßopfer darbringt. Durch die Freundlichkeit der Alten war jede Furcht von dem Burschen gewichen, er ergriff beherzt den ihm dargebotenen Pokal und leerte ihn mit einem schallenden "Vivat". Da tönte es vielfach von den Wänden des Gewölbes zurück: "Vivat, vivat!" Die Augen der Alten funkelten bei diesen Worten, und in unabsehbarer Menge strömten gleiche, fremde Gestalten herein und riefen: "Vivat!" Es war, als hätte dieses einzige lateinische Wort die Geister aller Römer beschworen, die da in den Gräbern des Leibnitzerfeldes mehr als anderthalb Jahrtausende so stille geschlummert. Sie alle freuten sich über das Wort in ihrer Muttersprache, das sie, die gleich Verbannten in fremder, nordischer Erde Ruhenden, seit so langer Zeit nicht mehr gehört hatten. Immer mehr und mehr drängten sich die Gestalten an den Burschen heran, tranken ihm zu und jubelten; und dieser tat ihnen wacker Bescheid und rief wieder und immer wieder "Vivat!", das einzige lateinische Wort, das er kannte und das ihm unbewußt entfahren war, den Alten aber so viele Freude machte. Mit einem Male rüttelte es den Burschen. Er fuhr empor und fand sich noch liegend auf dem Hügel. Da war es ihm leid, daß alles nur ein Traum gewesen sein sollte. Als er aber in die Taschen griff, fand er diese vollgefüllt mit wirklichen Goldmünzen von altem, unbekanntem Gepräge. Also war es kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen, und die alten Römergeister hatten ihn zum Danke für den einzigen Klang aus ihrer alten, längst entschwundenen Zeit, zum reichen Manne gemacht.
Fröhlich machte er sich nun wieder auf den Weg und erreichte glücklich seine Heimat. Die Not, welche lieb Mütterlein und Schwesterchen bisher gelitten, hatte nun ein Ende. Bald fand der Bursche auch eine Braut, und als er mit ihr seine Hochzeit feierte, gedachte er auch seiner Wohltäter vom Leibnitzerfelde und trank den alten Römergeistern ein fröhliches "Vivat" zu.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911