NICHT BEWÄHRT
An den Abhängen des Massenberges [Masenberg], zwischen Pöllau und Vorau, weidete ein armer Schäferjunge seine Herde. Sorgfältig achtete er auf seine Lämmchen und sah ihnen zu, wie sie munter umherhüpften und freudig blökten, wenn sie auf der mageren Weide eine Stelle fanden, auf der etwas mehr und saftigere Kräuter und Blumen wuchsen, als sonst regelmäßig zu finden waren. Als es Mittag geworden und die Sonne hoch am Himmel stand, trieb der Junge seine Tierchen zusammen, führte sie in den nahen Wald, wo es mehr schattig war, und setzte sich dann auf einen der herumliegenden Felsblöcke, um nun sein gewöhnliches Mahl einzunehmen. Dieses bestand aus einem Stücke schwarzen Brotes und einer Handvoll würziger Erdbeeren, welche er unterwegs gefunden und gepflückt hatte; eine klare Quelle, welche nicht weit davon vorbeirieselte, bot ihm den erfrischenden Trunk dazu.
Masenberg, Steiermark
© Harald
Hartmann, 1. Juni 2005
Wie er nun so dasaß und sich's schmecken ließ,
fiel ihm auf einmal seine ärmliche Lage ein, und er begann mit sich
selbst zu reden. "Ach", sprach er, "ich und meine Schafe, wir sind wohl
arm, recht arm! Ich verdiene mir kaum dieses schwarze Stückchen Brot
und meine Tiere finden nicht einmal Futter genug auf dieser mageren Weide.
Wäre ich nur ein bißchen reich, uns sollte es ganz anders gehen
und meine Schäflein sollten das beste Weideplätzchen angewiesen
erhalten!" Kaum hatte der Junge so gesprochen, da stand ein alter Mann
vor ihm, den er früher nie gesehen. Dieser blickte ihn ernst und
forschend an und sprach: "Verzage nicht, klage nicht, denn es kann dir
ja geholfen werden! Schon mancher Arme hat in der Welt sein Glück
gemacht, insoferne er es verstanden hat, die günstige Gelegenheit
zu erfassen und sie auch festzuhalten. Du hast deiner Tierchen gedacht
und nicht nur an dich allein; dies gefällt mir und ich will dich
für deine Gutherzigkeit belohnen. Komm und folge mir!"
Erstaunt hatte der Schäferjunge den rätselhaften Alten betrachtet
und ihm zugehört. Nun stand er auf und folgte ihm in eine verborgene
Felsenschlucht und in einen langen, dunklen Gang, an dessen Ende ein See
war. Ein schmaler Steg führte über diesen letzteren und endlich
kamen sie zu einer Tür, die sich von selbst öffnete. Der Junge
sah sich in einem lichten Gewölbe, in dessen Mitte eine große,
eiserne Truhe stand, welche mit blinkenden Goldmünzen ganz gefüllt
war.
"Nun", sprach der Alte, hier ist der Schatz, der dich glücklich
machen soll; nimm davon, soviel du willst und fülle damit deine Taschen
an, doch sage keinem Menschen ein Wörtchen, wie du dazugekommen bist!"
Der Junge versprach dies und füllte seine Säcke, so daß
er kaum mehr zu gehen vermochte. Darauf verließen sie das Gewölbe,
überschritten auf dem langen, schmalen Stege den See und gelangten
durch den dunklen Gang wieder ins Freie.
Als sich der Schäfer umsah, um sich die Stelle gut zu merken, wo
der Eingang zur Schatzhöhle sei; sah er sonst nichts, als einen steilen
Felsen vor sich. Auch der rätselhafte Alte war verschwunden.
Nun griff der Junge in seine Taschen und überzeugte sich, daß
es wirklich Dukaten seien, welche er zu sich gesteckt. Dann aber rief
er laut: "Jetzt kann die Schafe hüten, wer da will! Ich tu's nicht
mehr, denn ich bin jetzt reich und kann mein eigener Herr sein!" Und nun
lief er eiligst ins heimatliche Dorf und erzählte, uneingedenk seines
dem Alten gegebenen Versprechens, den Leuten, was er erlebt hatte. Als
er aber dann in die Taschen griff, um die Wahrheit seiner Erzählung
zu beweisen, da zog er, o weh, nichts als lauter Kieselsteinchen hervor.
Die Leute lachten ihn nun weidlich aus, ja einige von ihnen waren gar
erbost, daß der Junge sie zum besten gehalten und ließen ihn
dafür ihre Fäuste fühlen. Wütend darüber, eilte
der Schäferjunge zu seiner Herde zurück, wo er den rätselhaften
Alten wieder sah und den er nun über den ihm gespielten Streich zur
Rede stellte. Dieser antwortete ihm in ernstem und verweisendem Ton: "Du
hast dich nicht bewährt! In deinem Glücke hast du die Herde
verlassen und auch dein Versprechen, Stillschweigen zu beachten, nicht
gehalten, und deshalb verwandelte sich das Gold zur Strafe in Kieselsteine!"
Und nach diesen Worten war der Alte verschwunden. Der Junge mußte
nun nach wie vor die Schafe hüten und hatte dabei Muße genug,
sich selbst über seinen Eigennutz zu schelten und sich darüber
zu ärgern, daß er es nicht verstanden hatte, das Glück
festzuhalten.
Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911