SAGEN VON LINDWÜRMERN UND DRACHEN

Zahlreich sind die Sagen, welche, oft aus der grauen Vorzeit herüberreichend und von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzend, sich bis aufunsere Zeit erhalten haben. Zu den interessantesten derselben gehören die Sagen von Lindwürmern und Drachen, welche sich in der Regel an das Auffinden von Überresten jetzt nicht mehr vorkommender Tiere knüpfen, die unseren Vorfahren unbekannt waren und daher zur Entstehung solcher Sagen Anlaß gegeben haben dürften. Häufig berichten solche Sagen auch von Kämpfen mit diesen Untieren und gelten dann in ihrer eigentlichen Bedeutung als eine Versinnlichung des beharrlichen Widerstandes der Menschheit gegen die übermächtigen Kräfte der Natur.

Lindwurmsagen werden vielfach mit der Zerstörung von Ortschaften, ja selbst ganzer Gegenden, in Verbindung gebracht. So soll der paradiesische Talboden der Gemeinde Unterhall bei Admont, nachdem aus den Schluchten der nördlichen Felsengebirge ein Lindwurm hervorgebrochen war, durch die mitfolgenden furchtbaren Gewässer in eine mit Schutt bedeckte Wüste verwandelt worden sein.

Nicht weit von Hall, aus dem Rabengraben drang ein ähnliches Untier hervor. Es wandte sich zur Felsenschlucht des Gesäuses und blieb dort mit seinem ungeheueren Körper und den weiten Flügeln stecken. Dadurch in ihrem Laufe aufgehalten, staute sich die Enns; das Wasser überschwemmte das ganze Tal, hob dann den erstickten Drachen und setzte dessen gräßlichen Körper in Gstatterboden ab, worauf die Fäulnis des Tieres die ganze Gegend verpestete. Das Untier war so groß, daß achtzehn Rinder unter dem Gerippe Unterstand fanden.

Auch aus dem Schwarzen See in der Großsölk brach ein Lindwurm aus, wurde aber durch die von den Gewässern mitgerissenen Felsblöcke zerquetscht und blieb bei Stein im oberen Ennstale liegen.

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Kalwang soll einstens gegenüber seiner gegenwärtigen Stätte, an der Einmündung des Pischinggrabens in das Liesingtal, gestanden sein. Ein großer Wolkenbruch zerstörte die Ortschaft, und aus dem Pischinggraben kroch ein riesiger Lindwurm hervor, verschlang Menschen und Tiere, deren er habhaft werden konnte, und hinderte so den Wiederaufbau des Dorfes. Aus Furcht vor diesem Ungeheuer verließen die Bewohner die Gegend und trieben ihr Vieh hinweg, so daß es dem gefräßigen Ungeheuer bald an Nahrung fehlte, worauf es aus der Gegend verschwand.

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Der Hohenwart an der Grenze der Bezirke Irdning, Oberwölz und Oberzeiring soll in seinem Innern hohl und mit unterirdischen Gewässern gefüllt sein. In diesem Wasserbauche des Berges hauste einst ein Lindwurm. Wenn er brüllte, zitterten weitum die Berge, und die Leute fürchteten, er könnte ausbrechen und das ganze Tal verheeren. Als nun dieses Ungetüm seit einiger Zeit sich nicht mehr meldete, nahm ein Bauer seinen Bergspiegel, mittelst dessen er in das Innere der Gebirge sehen konnte, stellte denselben auf und sagte dann: "Freuet euch, der Lindwurm schadet uns nicht mehr! Als er neulich so entsetzlich brüllte, stürzten zwei Felsen zusammen und erdrückten ihn." In der Folge soll durch die Verwesung des Lindwurmes am Hohenwart der Wildensee entstanden sein, welcher, wenn man seinen Spiegel trübt, Wetter erzeugt.

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Die Gegend von Rottenmann soll früher ganz von Wasser bedeckt gewesen sein und dieses einen großen See gebildet haben. Darin hauste ein schrecklicher Drache, der die Ufergegenden herum verheerte. Endlich gelang es einem Manne, das furchtbare Untier zu besiegen und zu töten. Bei diesem Kampfe wurde sein Kleid ganz rot gefärbt von dem Blute des von ihm erschlagenen Drachens. Als dann später das Wasser des Sees abgeflossen war und man dort eine Stadt erbaut hatte, wurde diese "Rottenmann" genannt.

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Die sogenannte Mixnitzer Kogellucken war in früheren Zeiten von ungeheueren Schlangen und Drachen bewohnt, weshalb sie auch die "Drachenhöhle" genannt wird. In dieser hauste ein gräßliches Ungetüm, eine riesige Schlange, mit Schuppenpanzer bedeckt und mit Flügeln versehen, und richtete viel Unheil an, indem es Menschen und Tiere zerriß und verschlang. So fügte es auch einem Bauern von Pernegg, der in der Nähe von Röthelstein am Mixnitzbache einen stattlichen Meierhof besaß, großen Schaden zu. Der gefräßige Drache überfiel zwei Rinder und tötete auch einen Halterbuben.

Der Bauer versprach dem eine große Belohnung, der die Gegend von dem gefährlichen Feinde befreien würde. Auf das hin zogen gar viele zur gefährlichen Drachenbekämpfung aus, aber niemand gelang es, das Untier zu erlegen. Einigen verging die Lust zum Kampfe schon, wenn sie den Drachen nur brüllen hörten; andere wurden von dem Ungeheuer verwundet, und wieder andere verschwanden spurlos und kehrten nie mehr zurück. Infolgedessen wollte auch niemand mehr den Kampf mit dem schrecklichen Untiere am Drachentauern aufnehmen; selbst die Knechte und Mägde, welche den Meierhof bewirtschafteten, verließen ihren Dienst. Nur einer war entschlossen, das Untier zu töten; es war dies des Bauers Ziehsohn. Er erkannte, daß er im offenen Kampfe niemals des Drachen Herr werden würde; deshalb ersann er eine List und traf in größter Stille seine Vorbereitungen.

Vorerst forschte er nach dem Lager des Feindes am Berge selbst und bemerkte, daß das Tier sich eine ganze Riese von oben herab bis zum Mixnitzbache ausgewälzt und dabei sorgfältig alle scharfen Steine beseitigt hatte. Daraus folgerte der kluge Jüngling, daß das Tier einen sehr zarten, weichen Bauch besitze, und erdachte sich nun den Plan, wie er die Gegend von der furchtbaren Geißel befreien wollte. Er begab sich in der Dämmerungszeit und bei günstiger Windrichtung zur Drachenriese und grub hier Sensen und Sicheln derart in den Boden ein, daß dieselben umgekehrt, nämlich mit der Spitze nach aufwärts, standen. Darauf begab er sich seitwärts, um von hier aus, hinter einem Gebüsche verborgen, den Erfolg seiner Tat abzuwarten.

Es dauerte nicht lange, so hörte er den Drachen schnauben und brüllen. Das Tier nahm seinen gewohnten Weg durch die Riese zum Bache, um in dessen Fluten seinen Durst zu stillen. Seine blitzenden Augen leuchteten, und seinem gewaltigen Rachen entstieg ein feuriger Dampf, der deutlich den Pfad des Riesenwurmes bezeichnete. Als der Drache zur Stelle kam, an der die scharfen Spitzen der Sensen und Sicheln aus dem Boden hervorragten, begann er so gräßlich zu brüllen, daß dem jungen Manne hinter dem Gebüsche angst und bange wurde. Das Untier wurde, indem es über die schneidigen Werkzeuge dahingleitete, von denselben verletzt; es bäumte sich in seinem Schmerze zurück, aber nun faßten es die Spitzen der Sensen und Sicheln erst recht im Bauche. Der verwundete Drache schnaubte und brüllte fürchterlich, schlug mit dem riesigen Schweife und den mißgestalteten Flügeln heftig um sich, so daß davon die nahen Bäume geknickt und große Felsblöcke losgerissen wurden. Aber je mehr das Ungetüm tobte, desto mehr verhakten sich die verborgenen Waffen in seinem Bauche. Endlich ballte sich der Drache zu einem gräßlichen Klumpen, kollerte heulend den Berg hinab und verendete nach furchtbaren Zuckungen.

Groß war die Freude der Bewohner der Gegend, als sie erfuhren, daß der gefürchtete Feind doch unschädlich gemacht worden sei. Alles eilte hin zur Stätte, wo der tote Drache lag, und staunte denselben an; man fürchtete sich fast noch vor dem Anblicke des erlegten Tieres, dem der riesige Schuppenleib, der mit mehreren Reihen scharfer Zähne besetzte Rachen und die häßlichen Flügel ein schreckliches Aussehen verliehen.

Der Drache wurde tief in die Erde verscharrt. Seinem Besieger aber, dem klugen und furchtlosen Jünglinge, schenkte der Bauer zum Lohne für seine große Tat den Meierhof, und alle Leute im ganzen Murtale priesen ihn als ihren Erretter und Befreier.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911