DER ZIEREINERSEE
Auf den Höhen des Sonnwendjochs unweit des Achensees liegt in erhabener Bergeinsamkeit der tiefdunkle, sagenumwobene Ziereinersee wie ein Auge des Berges, das zum Himmel aufschaut. Schwarze Forellen huschen über den klaren Grund des Sees, an dessen Ufer, in sich zusammengeduckt, dunkle Legföhren stehen.
Die ganze Umgebung ist voll unheimlicher Spalten, Löcher und Höhlen, deren eine tiefe in den Felsen hineinreicht und zum Aufenthaltsort einer Seejungfrau führt. Wer sich hineinwagt, gelangt zu einem unterirdischen See, der manchen Schatz birgt und seit langem die schöne Jungfrau beherbergt, von dem die Älpler viel zu erzählen wissen. Etwas weiter vom See entfernt liegt die Grausenhöhle, ein weites, unheimliches Felsengewölbe, wo jeder mit einem Hagel von Steinwürfen, von unsichtbarer Hand geschleudert, empfangen wird.
Einmal kam ein Gemsjäger in die Nähe des Sees und sah dem Seefräulein von ferne eine Weile zu, wie es die Fischlein fütterte und die Blumen in dem lieblichen Garten begoß. Während er noch ihre Schönheit bewunderte und vom Glanz der schimmernden Perlen am Saume ihres schneeweißen Kleides wie geblendet war, gewahrte er plötzlich, wie ein großer, grüner, scheußlicher Drache aus einem Felsloch seinen gräßlichen Rachen herausstreckte. Schnuppernd blinzelte das Untier in die sonnenüberströmte Landschaft hinein, kroch dann zur Gänze aus dem Loch heraus und entfaltete, sich aufreckend, die gewaltigen Flügel. Und mit einemmal riß das Ungeheuer den schaurigen Rachen weit auf und schickte sich an, auf das Fräulein loszustürzen.
Blitzschnell griff der Jäger nach dem Stutzen, steckte eine geweihte Kugel in den Lauf und schoß den Drachen mitten in den Kopf, daß er, sich überschlagend, tot bis zu den Füßen des Seefräuleins hinkollerte. Freudig eilte jetzt der Schütze zu der schönen Jungfrau hin, die ihm wortlos durch Blick und Lächeln dankte. Dann winkte sie ihm, schweigend mitzukommen und führte ihn in die Seehöhle, wo sie ihm reiche Schätze wies. Wie gebannt von all dem Gleißen und Glimmern, das von allen Wänden strahlte, sah der Jäger eben noch, wie die Jungfrau in die Fluten des unterirdischen Sees hinabtauchte, dann war er allein. Mit großen Reichtümern beladen, kehrte er wieder in die Oberwelt zurück.
Aber der Ziereinersee gilt nicht nur als Aufenthaltsort des freundlichen Seefräuleins, der See selbst birgt unheimliche Kräfte in sich, wie er auch eine unheimliche Tiefe haben soll. Man meint, daß der Seeboden tief unten in der Höhe des Inntales liegt. Von den Fischen im See erzählt man, daß sie verwandelte arme Seelen seien, die hier auf ihre Erlösung warten. Wenn die letzte dieser büßenden Seelen befreit ist, trocknet der Ziereinersee aus. Dann wird man von seinem Grund in das Innere der Berge gelangen können und dort reiche Schätze finden.
Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich,
o. A., o. J., Seite 272