Sagen aus dem Achental
Im heutigen Achental war es, in grauer Vorzeit. Die Ache rauschte, gespeist von den Wassern des Sees und von vielen Wildbächen, durch das noch ungerodete Tal, sich jedes Jahr bei Hochwasser ein anderes Bett suchend. Der Unter-Aubach wälzte seine schotterigen Fluten, vielleicht in nördlicher Richtung, wo man heute noch seine Spuren in den Feldern zwischen den Häusern "Bod'n" und "Schuster" sehen kann. Anstatt der Flugzeuge zogen Adler und Habicht ihre Kreise über den dichten Wäldern, mit scharfen Augen nach Beute spähend. Die Wildrudel wechselten unbehelligt von einer Talseite zur anderen. Wo heute friedlich das Vieh der Bauern weidet, trottete Meister Petz brummend über das weiche Moos. Aus dem dämmerigen Waldesdunkel glühten die Augen der Wildkatze und, auf einen Buchenast hingeschmiegt, lauerte der geschmeidige Leib eines Luchses. Vom Inntal herauf dröhnten noch nicht die Marschschritte römischer Kohorten.
Im Westen des Achensees, in einem bächereichen Tal, auch heute noch "Bächental" genannt, durch Wälder und Jöcher vom Achental getrennt, lebte eine Hirtenfamilie mit ihrer zahlreichen Sippe und ihren Herden. Man weiß weder Namen noch Art, noch woher sie kamen. Ein weitgewanderter Urahn, wieder zu den Seinen zurückgekehrt, erzählte den erstaunt Aufhorchenden von einem Tale, mit Wäldern bedeckt, in denen zahlreiches Wild zu finden sei und das im Süden von einem wunderbaren blauen See abgeschlossen werde. An seinen Ufern finde sich ein Heiligtum der Göttin Berchta, welches in einer grünen Au errichtet sei. Auf dem Gebirge flammen die Opferfeuer, und in einem der Göttin geweihten See, welcher von himmelanstrebenden Felswänden umrahmt sei, könnte man sogar Goldkörner finden.
Ein Sohn dieser Sippe, ein kräftiger, hochgewachsener Mann, wir wollen ihn Abbo nennen, sehnte sich nun Tag und Nacht nach diesem Tale. Die Sippe wurde immer größer, seine Herden immer zahlreicher. Es war ein Gebot der Notwendigkeit, daß er sich einen eigenen Herd gründete. An einem stürmischen Frühlingstag kehrte nun von seiner Herde der schönste Stier und der größte Ziegenbock nicht zurück. Abbo suchte sie tagelang vergeblich.
Ganz trostlos geworden, opferte er seinen Göttern und erflehte von ihnen ein Zeichen. Und siehe, eines Nachts träumte er von einer Gegend, die er durchwandern müßte, um die Verlorengegangenen wiederzufinden. Er rüstete sich zur Reise. Eine Felltasche mit Mundvorrat wird sein Reiseproviant gewesen sein, ein gegürteter, knielanger Rock aus Wolle und ein ebensolcher Umhang seine Kleidung. Derbe Felle umhüllten seine Beine, die in ledernen Bundschuhen steckten, Als Waffe diente ihm eine Wurfkeule, die Armbrust kannte man noch lange nicht. Ein eisenbeschlagener Stock stützte ihn auf den holperigen Pfaden, die sein Fuß betrat. So ausgerüstet, begann er seine Wanderung, das Bächental aufwärts, über viele Gräben (Gröbenalm), wobei ihm sein Bergstock gute Dienste beim Überspringen derselben leistete. Er baute sich einen Steg über einen besonders tiefen Graben (Hochstegen), wanderte durch Urwald und Dickicht zur heutigen "Gupjas". Dort erreichte er das Ende des heutigen Unter-Autales. Der Wildbach wälzte seine Wasser bei jedem Gewitter willkürlich durch das Tal, Schotter und große Steine mit sich führend. Also konnte der einsame Wanderer sich nur auf den nordseitigen Hängen des Tales fortbewegen. Er rastete in einer Felshöhle und opferte wieder seinen Göttern, um ein gutes Gelingen seines Vorhabens zu erreichen. Diese Höhle wird heute noch "Wilde Kirch" genannt. Düster und dunkel schatteten die Wälder auf dieser Talseite, heute noch "Neder" genannt. Mit seiner Wurfkeule erlegte er manches Kleintier, um es, am Spieß gebraten, zu verzehren. Nach mühsamer, tagelanger Wanderung erreichte er den Ausgang des Tales, am heutigen "Nock" vorbei, über die Ebene, "Tafel" genannt, und nun bemerkte er als geübter Jäger die Spuren seiner verlorenen Tiere im weichen Boden. Er verfolgte sie in dem neuentdeckten Tale nordwärts, und voller Freude fand er die beiden Stücke, auf einer sonnigen Leite friedlich grasend.
Die Erzählung des Urahns ist Wahrheit geworden. Abbo wanderte durch die neuentdeckte Gegend, gleichsam von ihr Besitz ergreifend. Er freute sich über die warme, sonnige Lage. Mit den Seinen würde er die Wälder roden und Hütten bauen. Auch eine Quelle fand er in einer Höhle. Er kehrte zu den Seinen zurück und berichtete seine Erlebnisse. Mit seiner Familie und seiner Herde zog er nun in das wilde, grüne Tal. Voll Dankbarkeit meißelten sie ihre Runen in die Felswände der Quellhöhle, sie dem Schütze der Gottheit empfehlend. Zwei Höfe auf der sogenannten "Leit'n" hießen früher beim "untern und beim obern Bockstall", heute, abgewandelt, "Pogstl".
Dies erzählt uns die Sage, und in ihr ist immer ein Körnlein Geschichte enthalten. Jahrtausende sind vergangen - und schüchtern verbirgt sie sich vor der Neuzeit, und langsam versickert die Erinnerung.
Die Vorzeit und die Besiedlung des Achentals liegen im Dunkeln. Die älteste Kunde gibt uns eine Urkunde, in welcher die Herren von Schlitters, als die damaligen Eigentümer dieser Gegend, diese an das Kloster Fiecht - St. Georgenberg schenkten. Diese Urkunde stammt aus dem Jahre 1112. Also ist das Achental schon vor diesem Zeitpunkt besiedelt gewesen. Es ist durchaus möglich, daß die Höfe auf der "Leit'n", dem wärmsten und sonnigsten Platz des Tales, die ersten Siedlungen im Achental waren, einschließlich des "Moar"-Hofes, des einstmals größten Besitzes.
Den Kern der Sage erzählte mir Theres Oberdanner, genannt "Heacher-Thres", die ihn wieder von ihrer Mutter erzählen hörte. Das andere flüsterte mir der Wind zu, der seit Jahrtausenden durch das Achental pfeift, und der muß es ja wissen.
Wie viele andere Seen, hat auch der Achensee seine Sage vom versunkenen Dorf, bloß ist sie im Achental wenig bekannt, d. h. fast vergessen.
Der Achensee
Bildarchiv
SAGEN.at, Nr. 21650, 1987
An der Stelle des heutigen Achensees lag einst eine blühende Ortschaft inmitten weit sich ausdehnender Felder und Wiesen. Stattliche Bauernhöfe scharten sich um die Kirche. Die Bewohner lebten ohne Sorgen in sattem Wohlstand. Aber, wie dies häufig der Fall ist, die Bevölkerung wurde stolz und übermütig. Mildtätigkeit und Hilfe für in Not geratene Mitmenschen war ihnen fremd. Kaum ein Bettler, der an die Tür klopfte, erhielt eine milde Gabe oder gar eine Unterkunft. Er mußte im Freien übernachten und seinen Hunger mit Beeren und Waldfrüchten und seinen Durst mit Wasser stillen.
Da kam eines Abends ein uralter Mann in die Gegend. Ein breitrandiger Hut beschattete sein Gesicht, er war in einen weiten Mantel gehüllt. Ein schneeweißer Vollbart reichte ihm fast bis zum Gürtel. An einem Stock, den er sich wohl aus einem Gebüsch geschnitten hatte, bewegte er sich mühsam vorwärts. Von Haus zu Haus gehend, bat er um ein wenig Essen und um eine Unterkunft für die Nacht. Doch er wurde überall mit höhnischen Worten abgewiesen und zuletzt gar mit Hunden aus dem Dorf gehetzt. Er wandte sich bergwärts gegen das Oberautal, und von der Höhe schleuderte er seinen Fluch auf das Dorf und dessen kaltherzige Bewohner. Hätte ein Bauer ihm jetzt noch Nahrung und Unterkunft geboten, so wäre er versöhnt gewesen, aber im Gegenteil, sie verspotteten ihn nur.
Ein schweres Unwetter begann sich zusammenzubrauen. Aus den schwarzen Wolken zuckten grelle Blitze und ein stundenlanger, wolkenbruch-artiger Regen schüttete unermeßliche Wassermassen auf das Tal. Dazu tönten gewaltige Donnerschläge, die die Erde erzittern ließen. Gewaltige Sturzbäche ergossen sich von den Bergen, die Erde öffnete sich, und das blühende Dorf versank in den Fluten.
Unbeirrt und kräftigen Schrittes stieg der Alte bergan bis zur Höhe des Fonsjochs. Dort legte er sich erschöpft zum Schlafe nieder. Am nächsten Morgen erblickte er im hellen Sonnenschein tief unter sich einen großen, tiefblauen See. Müde streckte sich der Alte wieder zu einem jahrhundertelangen Schlafe nieder. Er schläft heute noch. Man kann das menschliche Profil rechts vom Seekar am Grat des Fonsjoches gut erkennen. Jedes Frühjahr reckt und streckt sich der Alte im Schlaf, die Schneedecke lockert sich und die Lawinen donnern zutal.
Wer ein Sonntagskind ist, kann an klaren Tagen die Kirchturmspitze des versunkenen Dorfes im See erkennen, aber nur wer frohen und zufriedenen Herzens am Ufer des Sees wandelt und nicht mit einem Straßenkreuzer in Augenblicksschnelle vorübersaust.
Den Kern der Sage erzählte mir meine Großtante Sophie Jaud, geb. Jaud, gewesene Schusterbäuerin in Achenkirch.
Quelle: Käthe Staudigl-Jaud, Sagen aus dem Achental, in: Tiroler Heimatblätter, Heft 7 - 9, 1961, S. 95 - 96.