Die "antrischen Leut" [Unheimliche Leute]
Einmal ist der Herrgott auf die Erde gekommen zum Adam und hat ihn gefragt, wie viele Kinderlen er hätte. Da hat sich die Eva geschämt, weil ihrer Kinder gar so viele waren und hat dem Adam ein Zeichen gemacht, daß ers nicht sagen soll. Und der ist richtig so dumm und leugnet seinem Gott und Herrn eine Menge von seinen Kindern weg. Der Herrgott hat ein Zeitl den verlogenen Menschen fest und ernsthaft angeschaut; dann hat er gesagt: "Die Kinder, die du mir jetzt fortgeleugnet hast, sollen verborgen sein und bleiden." So hat den lieben Herrgott die Lüge verschmacht.
Die von Adam verleugneten Kinder halten sich seitdem in den Berghöhlen, jedem Auge verborgen, auf. Sie sind still und friedlich, bleiben ganz für sich; vieles Geheime ist ihnen offenbar. Wo ein tiefes Loch oder ein langer Gang in einen Fels hineingeht, da heißts, namentlich im Ahrn- oder Tauferertal: "Das ist ein antrisches Loch; da sind einmal antrische Leut drin gewesen." Manch einer hat schon aus solchen Felslöchern Rauch aufsteigen sehen; auch allerhand Hausrat soll von einzelnen, die sich hineingewagt haben, gefunden worden sein, aber nie hat jemand ein menschliches Wesen darin erblickt.
Hier und da einmal gesellen sich antrische Leute zu den Menschen, erweisen sich freundlich und hilfreich. In Weißenbach diente eine antrische Dirn auf einem Bauernhofe, war fleißig und treu und brachte dem Hause großen Nutzen. Beim Fortgehen schenkte sie der Bäurin, die sie ungern ziehen ließ, ein Zwirnknäuel und verbot ihr, jemals nach dem Ende zu fragen, Lange Zeit hielt die Bäurin das Gebot, und das Zwirnknäuel blieb immer gleich voll, aber einmal vergaß sie sich und fragte nach dem Ende, da war das Knäuel schon gar.
Glück oder Unglück, das dem Hause bevorstand, konnten die Antrischen vorhersagen; sie gaben auch weise vorausschauende Ratschlage über Wetter und Feldarbeit. Wenn ihr Rat nicht befolgt ward, so zürnten sie und kamen nicht mehr; für Spott oder Beleidigungen nahmen sie empfindliche Rache. Sie scheuten alles Geräusch und Lärmen; im allgemeinen scheuten sie auch den Anblick der Menschen und verbargen sich vor ihnen. Besonders zuwider war den antrischen Leuten, als das Christentum einzog, das Glockengeläute. Sie schalten auf die Geiß- oder Kuhschellen, wie sie die anfänglich kleinen Glocken nannten. Immer weiter verschlüpften sie sich vor dem Glockenschall ins Gestein; wenn sie aber konnten, stahlen sie die Glocken und vergruben sie.
Die ersten Christen in Onach hatten sich auch ein Glöckl in ihren Kirchturm gehängt. Bei Nacht kamen die antrischen Leute, stahlen es und trugen es hinauf ins Geklügt am hohen Graben, dort hausten sie, und dort vergruben sie die Glocke zwischen den Felsen. Aber die Glocken wachsen wie andere vergrabene Schätze allmählich wieder nach oben, sieben Spannen in je siebenmal hundert Jahren, und zu gewissen Zeiten blühen sie, das heißt: leuchtende Flämmchen zeigen sich an der Stelle. Ein Onacher Hirt sah den Schatz blühen, zog das Glöcklein aus der Felsenkluft hervor; und die Onacher hängten es wieder in ihren Kirchturm, wo es heute noch läutet.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 208ff