Vom Kalterer See
In einem Bauernhof unweit Kaltern, da wo man's jetzt "beim Klughammer" heißt, wohnte einst ein reicher, aber geiziger und hartherziger Bauer. Er besaß die fruchtbarsten Äcker und die fettesten Tristen, hatte die Ställe voll Groß- und Kleinvieh, aber er vergönnte keinem andern auch nur das Geringste.
Es war aber um die Zeit, da unser lieber Heiland noch auf Erden ging. Als ein armer Wanderer pochte er an die Tür des einsamen Hauses; da taten ihm die Eigentümer auf, und der Herr bat nur um einen Bissen Brot und einen Schluck Nassers. Die Frau des Bauern, die weicheren Sinnes war, hätte nicht ungern den Wandersmann gelabt, aber der Bauer fuhr dazwischen und schrie: er solle sich ins Teufelsnamen dorthin scheren, wo er hergekommen sei. Zu essen gäbe er solchem verdächtigen Volk nichts, und Wasser hätte Gott ihm, dem Bauern, selbst nicht genug gegönnt.
Da wandte unser Herr sich schweigend von bannen. Aber wie er im Gehen die Bosheit und Harte der Menschen bedachte, flössen über sein heiliges Antlitz die Tränen herab. Die tropften zur Erde, und wo sie hinfielen, sprang eine Quelle hervor) die wurde zur reißenden Wasserflut, stieg und schwoll, und begrub unter ihren Wellen die ganzen Äcker und Wiesen ringsum. Das Haus selbst, das höher lag, blieb zwar verschont; aber die Bewohner hatten durch die Überflutung all ihr Gut verloren und mußten fortan ein dürftiges Dasein fristen. Nur an Wasser gebrach es ihnen nicht, denn wo früher fruchtbares Land gewesen war, da dehnte sich nun die weite Fläche des Kalterer Sees.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 135f