Die Ledige
Einmal ward in Unterinntal Volksmission gehalten. Da kamen solche, die sonst ihrer armen Seele noch nicht viel nachgefragt hatten und nun plötzlich daran gedachten. Es kamen aber auch andere, die sie immer sorgsam bewahrt und eingewickelt hatten wie ein wertes Erbstück im Kommodkasten. Zur letzteren Art gehörte eine gestandene Jungfrau, der gottlob niemand das geringste Üble nachreden konnte, und die, im Bewußtsein dessen und eines artigen Vermögens, nicht ohne Selbstgefühl auf die Mitmenschen herabsah. Aber sie legte dennoch, ergriffen von den Worten der Bußprediger, im Beichtstuhl ein offenes und reumütiges Bekenntnis ab, vor einem Pater, der im Rufe stand, ein ebenso frommer als seelenlundiger Mann zu sein.
Der Vater hörte die umständliche Beichte der ehr- und tugendsamen Jungfrau geduldig an; am Schlusse sprach er: "Von heute an bringe drei Nächte in der Kirche betend zu, und was du da sehen wirst, erzähle mir getreulich! Aber sei ohne Furcht, es wird dir nichts zu leid geschehen."
Die Jungfrau tat, wie der Missionär ihr geheißen. Aber es
war ihr doch bänglich zu Mut, als sie sich zu ihrer ersten heiligen
Nachtwache in die Dorfkirche begab. Da drinnen war es so dunkel; nur das
ewige Liht gab schwachen Schein - und still wars, totenstill: die Betende
konnte den Schlag ihres eigenen Herzens hören und das leise Fallen
der Kügelchen an ihrem Rosenkranz. So blieb es bis Mitternacht, da
schien es auf einmal, als leuchtete die ewige Lampe heller auf, und ein
Zug geisterhafter Gestalten kam dahergeschwebt, wie wenn sie nach altem
Brauch zum Opfer gehen wollten. Die Jungfrau sah Männer, Frauen und
Kinder an sich vorbeigleiten, die sie nie gesehen, in einer ihr unbekannten
Tracht. Sie meinte, es müßten arme Seelen sein. Endlich war
der Geisierzug verschwunden, und die Beterin blieb allein, bis der Morgen
dämmerte und der Mesner kam, um zum Engelgruß zu läuten.
Da ging die Jungfer heim, um den versäumten Schlafnachzuholen und
sich von dem gehabten Schrecken auszuruhen.
In der nächsten Nacht aber, da sie wieder in der Kirche kniete, sah
sie dieselbe Erscheinung und bei der dritten Nachtwache abermals; nur
deuchte der Zug gespenstischer Gestalten sie jedesmal länger zu sein.
Am Morgen nach der dritten Nacht ging sie ganz verstört zu ihrem Bußprediger und erzählte von den Ängsten, die sie ausgestanden. Sie bat ihn, ihr das Gesehene auszudeuten und ihr zu raten, was sie zu Nutz und Trost dieser armen Seelen tun könnte, die vielleicht aus ihrer Verwandtschaft wären.
"Hast recht, daß du auf die Toten denkst," sprach der Priester. "Aber in dem Fall tuts just nicht not, denn sie haben nie gelebt.
Weißt noch, wie du hättest heiraten können, ehrbar und gut, einen braven Menschen, der von dir sein Glück erwartete? Mit deinem Geld und rechter Wirtschaft hättet ihr ein feines Leben gehabt, und als brave christliche Hausmutter hättest du Segen gewirkt weit über deinen Tod. Denn die Gestalten, die du in den drei Nächten gesehen hast, waren keine Abgeschiedenen, sondern deine Nachkommen bis ins dritte und vierte Geschlecht. Sie haben nicht leben dürfen, weil du nicht wolltest. Gott hat dir vor Augen geführt, was du verscherzt hast. Nicht aus reiner Hebe zu ihm oder aus Weltentsagung bist du ehelos geblieben: die Mühen und Beschwerden des Ehestands haben dich geschreckt. Kinder machen Schmerzen und Sorgen; du hast es schön haben wollen und gemächlich. Frag dich selbst, was nun dein Verdienst ist vor Gott!"
Die Jungfer konnte kein Wort sagen, so erschüttert war sie, weil der Pater ihr so ins Gewissen sah.
"Geh heim!" sagte er - "trachte nach echter Frömmigkeit, heilige dein Leben durch Liebe! Der Herr sei mit dir!"
Da ging die Jungfer heim, aber sie hielt den Kopf tief gesenkt, und die Tränen flossen ihr übers Gesicht.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 188ff