Der Schuß auf den Herrgott
Auf einen Festtag ward einmal zu Kampill ein großes Wettschießen angestellt, und es kamen von weit und breit alle tüchtigen Schützen dahin, um ihre Kunst zu zeigen. Darunter war auch einer, der sonst die sicherste Hand und das schärfste Auge hatte, weshalb er schon bei manchem Schießen das Beste davongetragen. Darauf baute er auch diesmal und fühlte sich insgeheim schon als König, aber sein Zutrauen trog ihn. Er tat leinen einzigen Schuß ins Schwarze; seine Kugel, rein wie verhext, traf jedesmal vorbei. Sein Verdruß darüber war nicht gering; obendrein mußte er von den andern noch föppelnde und stachlige Reden in Kauf nehmen. Er strengte allen Fleiß an, tat auch manchen kräftigen Trunk, um sich anzufeuern; aber sein böses Glück blieb sich gleich. Darob geriet der Schütze in maßlosen Zorn, schalt und fluchte gotteslästerlich, sah dabei aus wilden Augen umher, an was er seinen Grimm auslassen möchte. Neben der Schießstatt stoß der Eisack vorbei: jenseits des Flusses stand am Ufer ein Bildstock aufgerichtet, ein Kreuz, daran der leidende Heiland hing.
Das sah der Fehlschuß und rief überlaut: "Was gilt's,
ich such mir ein Ziel, wo keiner von euch sich hingetraut. Treff ich die
damische Scheiben nicht, so treff ich den Herrgott!" Er riß
seinen Stutzen an die Wange, und ehe jemand ihm wehren konnte, hatte er
losgedrückt. Die Kugel pfiff hinüber zu dem Kruzifix und traf
die Brust des Bildes. -
Während alle, vor Schrecken starr und stumm, dastanden, hob sich
ein Sausen - der Schütze ließ seinen Stutzen fallen, stöhnte
auf und schlug längs hin. Als seine Kameraden zusprangen, entdeckten
sie voll Grausen, daß seine eigene Kugel ihm im Herzen steckte.
Über die ganze Breite des Flusses hinüber war sie auf den Frevler
zurückgeprallt.
Er bäumte sich noch einmal und verschied.
Ost ward darnach nächtlicher Weile in der Nähe der Schießstatt
ein Schuß gehört: das soll der unselige Schütz gewesen
sein, der auf das Heilandsbild geschossen und zur Strafe seines Frevels
im Grabe nicht Ruhe gefunden hat. Das Kruzifix aber, das überm Eisack
drüben, auf der Seite von Rentsch, sieht, trägt die Narbe vom
Anprall der Kugel bis auf den heutigen Tag.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 153ff