Tanneneh

Hoch im Gebirg lag vor Zeiten eine Stadt, geheißen Tanneneh; deren Bewohner waren anfänglich bieder und friedfertig, lebten genügsam und in brüderlicher Eintracht. Es ward aber anders, als der Wohlstand zunahm und daraus bei vielen der Reicheren auch Hoffalt, Gewinnsucht und Übermut erwuchs. Sie wurden knauserig, begannen die Ärmeren zu drücken und zu verachten. Und einmal, da die Vornehmsten und Ältesten versammelt waren, kam ihnen ein Beschluß zu Sinne, der an den Frevel des betörten Volkes zu Babel gemahnte - sie wollten einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reichte, und oben in den Turm eine Glocke hängen, deren Schall weithin gehört würde. Aber nur bei den Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen der Reichen sollte sie läuten, für die Armen nicht.

Diesen Plan führten die Leute von Tanneneh auch wirklich aus, und von da an kannte ihr Hochmut und ihre Üppigkeit keine Grenzen mehr. Unbarmherzig und nur ihren Lüsten fröhnend lebten sie dahin.

Einst kam ein armer Pilgersmann nach Tanneneh und bat um Herberge und Almosen. Die übermütigen Stadtleute aber wiesen ihn mit Hohn ab und hetzten ihn mitleidslos mit Hunden davon. Da ergrimmte der Arme und sprach:

Stadt Tanneneh,
Weh dir, o weh!
Es fallt ein Schnee
Und apert nimmermeh."

Noch am nämlichen Tage begann es zu schneien, so dicht und anhaltend wie nie, und die Schnee, wölken hüllten die ganze Stadt ein. Die große Glocke läutete um Hilfe, so laut sie konnte, aber niemand vermochte durch den Schnee zu dringen. Als das Schneien endlich aufhörte, war von Tanneneh und seinen Bewohnern keine Spur mehr zu sehen; eine dichte, vereiste Schneekruste bedeckte sie und blieb für alle Zeit. Das ist der Langtauferer Ferner, der vom gegen Ötz sich hinziehenden Vernagtferner abzweigt.

Jetzt noch hört man zuweilen tief unten im Gletscher ein Regen und Raunen, wie von einer volkreichen Stadt. Und zuweilen in der Morgenfrühe oder im Abenddämmer soll noch der hohe Stadtturm sichtbar sein.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 138ff