Der Ablaßzettel
Zu einem Kaufmann in Kaltern trat einst ein Männlein in den Laden, hielt einen Zettel mit dem Portiunkula-Ablaß in der Hand und sprach: "Nun, meine ich, hab' ich für mein Seelenheil all meine Lebtage genug gewonnen in diesem Ablaß."
Der Kaufmann, der keineswegs zu den Strenggläubigen gehörte, lächelte und scherzte: "Was geb' ich dir für das Papier? Ist dir's recht, wenn ich dir's mit Gold aufwiege?"
"Warum nicht?" antwortete das Männlein und gab den Ablaßbrief hin; der Kaufmann legte den leichten Zettel in die eine Waagschale und warf in die andere einen Dukaten, vermeinend, das Papier sollte hoch in die Luft fliegen. Aber er hatte sich stark verrechnet, die Waagschale mit seinem Dukaten stieg. Er legte noch einen hinzu, noch einen - 3, 4, 6 dem einen hinzu. Der Ablaß sank, das Gold stieg, und der Kaufmann hatte nicht mehr Gold.
Da wendete sich sein Herz; er gab dem Männlein alles Gold und seinen
Zettel dazu und sprach: "Ich glaube nun und will Gott nimmer versuchen."
Das Männlein nahm das Gold und verschwand unversehens.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 390.