Der Bafer auf Tobin
Im Stanzer Tale, zwei Stunden oberhalb Grins, das nahe bei Pians liegt
nach der Grinser Spitz hinauf, liegt die Alpe Tobin. Dort hinan stiegen
im Jahre 1854 zwei Wildschützen; es war Herbst, das Vieh ganz vor
kurzem von der Alpe abgetrieben, und die Hütten standen leer. Die
Nacht war kühl, und die Schützen, die an der Grinser Spitz und
am Tamin wildern wollten, entzündeten ein tüchtiges Feuer mitten
in der Almhütte, an dem sie sich wärmten, und legten sich dann
bald nach elf Uhr auf die Schlemm (Pritsche); das Feuer aber hatten sie
vorher noch mit starken Scheitern wohl genährt. Mit einem Male erhob
sich ein Lärm und Sausen und Brausen um die Hütte und über
ihr, daß die Schützen nichts anderes glaubten, als das Dach
werde über ihnen zusammenbrechen. Vorläufig aber krachte bloß
die Türe auf, und es trat ein Ochse von unglaublicher Größe
mit geraden Hörnern herein, trabte in der Hütte herum, ging
dann in den Milchkeller hinein und durchstöberte auch den, dann kam
er wieder heraus und trat zu den auf der Schlemm liegenden Schützen,
deren Furcht unbeschreiblich war - fügte ihnen jedoch kein Leid zu,
sondern wandte sich von ihnen ab zum Feuer und "bafte" ihnen
dasselbe aus, indem er so lange Wasser auf dasselbe geiferte, bis kein
Funke mehr glimmte. Dann verließ er die Almhütte - aber auch
die Wilderer fanden es für geraten, dieselbe zu verlassen und ihr
Nachtquartier lieber auf einem großen Baume zu suchen, um nicht
wieder mit einem solchen Ochsen in nähere Berührung zu kommen,
was immer eine mißliche und nachteilige Sache ist. Dabei wurden
sie inne, daß sie einen Fehler gemacht und die Almsitte übergangen
hatten, weil die Hütte schon leer war. Es muß nämlich
dieser Sitte zufolge jeder Schütze, der in einer Sennhütte übernachten
will, auch wenn sie verlassen oder leer ist, zuerst die Türe öffnen
und laut um die Gestattung der Nachtherberge bitten. Bleibt alles still,
so mag er eintreten, rührt sich's aber, oder meldet sich etwas nach
seiner Frage, dann kann er nicht sonder Lebensgefahr und Abenteuer bleiben.
Das wissen alle alten Älpler im Oberinntal.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 189.