Christnacht-Erscheinung

Einst ging in der heiligen Christnacht, als schon tiefer Schnee lag, ein Mann von Unterjoch her der Wartacher Brücke zu. Wie er dieser nahe kam, so hörte er plötzlich auf allen Zweigen, in allen Hecken und Büschen und auf allen Bäumen und Sträuchern einen wunderbaren Vogelgesang aus tausend Kehlen, wie am schönsten Frühlingsmorgen; dabei konnte er die Vogelarten, Lerchen, Amseln, Buchfinken und Meisen deutlich unterscheiden. Das alles, wie begreiflich, erfüllte den Mann mit mächtigem Staunen; denn er sah nichts als blätterloses, mit Schnee bedecktes Gezweig in heller Mondnacht. Auf einmal ließ sich von ferne wunderbares Schellengeläute vernehmen, und blitzschnell kam es heran - ein Schlitten war's, welcher gold- und silberfunkelnd daherfuhr, mit zwei Riesenhirschen bespannt und mit silbernen Schellen behangen, die ausnehmend lieblich klingelten. Im Schlitten aber saß ein hagerer, blasser Mann, mit kreuzweise übereinandergeschlagenen Armen, der auf dem Haupte ein Barett trug und schwarz gekleidet war. Der Michl, so hieß der Mann, der in "Höfen" daheim war, konnte kaum alles anschauen; denn im Nu war alles vorbei, und verschwunden war der Glanz, und verstummt war der Vogelgesang. Und wenn der Michl nicht so sehr gefroren hätte, er würde alles für einen Traum gehalten haben, weil auch kein Schlittenbahngeleise und kein Fußtritt der Hirsche zu sehen war, sie waren über den Schnee nur hingeflogen. Jetzt gedachte der Michl, daß der Sang der Vögel vielleicht dem neugeborenen Weltheiland gegolten habe, aber den Schlitten, die Hirsche und den blassen, schwarzen Mann, die wußte er nicht zu "versorgen", will sagen, zu deuten. Er eilte, so schnell er konnte, heim und kam just an, als die Christnachtmette begann.

Auch andere haben in der heiligen Christnacht in jener Gegend ähnliche Erscheinungen wahrgenommen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 153