Der Geist des Ehemannes
Im Stanzer Tale lebte einst ein sehr uneiniges Ehepaar. Endlich erkrankte der Mann, und da sein Weib es ihm an jeder Pflege fehlen ließ, so starb er. Wie er aber gestorben war, so kam er in jeder Mitternacht, setzte sich vor das Bett seines Weibes, rührte sich nicht, sprach auch nicht, sondern sah es nur immerfort an, bis die Glocke zum Gebet läutete. Das war für das Weib eine entsetzliche Pein, diese stete Gegenwart eines ebenso langweiligen als verhaßten Gespenstes, schon beim Leben verhaßt. Die Frau ging zu einem Geistlichen, der im Rufe stand, Geister bannen zu können, und bat ihn um Abhilfe. Der Geistliche sagte diese auch zu, stellte ihr aber die Bedingung, sie müsse den Geist zu ihm übers Joch tragen, wo er wohnte, denn zu ihr könne er nicht kommen, das sei zu weit. Zugleich lehrte er sie ein kurzes Gebet, mit dessen Hilfe sie den Geist ihrem Willen folgsam machen könne. Nun bezeigte das Mannesgespenst ganz und gar keine Lust, sich bannen zu lassen, aber die Kraft des Gebetes zwang ihn zum Gehorsam, und er kroch traurig auf die Kraxe, machte sich aber so schwer als es ihm nur immer möglich war. Und so wurde er über das Joch getragen und kam seiner gewesenen Frau zum ersten Male erträglich vor. Der Pfarrer nahm den Geist in Empfang und brachte ihn auf seine Studierstube; doch was er da mit ihm vorgenommen, weiß man nicht. Vielleicht hat er ihm eine gelehrte Abhandlung über den zweiten Band von Goethes Faust vorgelesen und ihn durch tödliche Langeweile gequält, und da ist der Geist auf einmal auf und davon und hat sich weder bei selbigem Pfarrer noch bei der früheren Frau wieder blicken lassen. Die Frau war heilfroh und freite bald darauf einen anderen Mann, mit dem sie sich besser vertrug.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 191.