Der starke Christli Kuhhaut
Zu Gallthür im Paznauntale lebte ein sehr frommes Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, und als eine Hungersnot ins Land kam, hatten beide nichts zu beißen und nichts zu brechen. Sie gingen daher in den Wald, um sich wie die "Oansiedl" von Wurzeln und Kräutern zu nähren. Da fanden sie ein Kraut, von dem, als sie es gegessen hatten, beide ausnehmend stark wurden, so daß kein Mensch sie bezwingen konnte. Eines Tages, als Christli Kuhhaut, so hieß der Bruder, mit seiner Schwester auf dem Platze war unter den andern Buben und Dirnen, rauften sie im Scherz miteinander um ein Hufeisen; beide faßten es mit einer Hand und zogen daran, da bog sich das Eisen wie weiches Wachs und wurde länglich, wie ein Lineal. Darauf holte ein Bursche aus der nahen Schmiede zwei ganz neue, große, starke Hufeisen für Fuhrmannsrösser, die faßten die Geschwister ebenfalls und zogen und bogen sie mit gleicher Leichtigkeit lang auseinander. Durch diese Stärke wurde es dem Geschwisterpaar leicht, ihr Wesen zu bessern, denn sie arbeiteten für sechs, und Arbeit bringt Brot. Christli hatte die Tasche voll Geld und wanderte mit seiner Schwester von Gallthür das Tal hinunter nach Wiesberg, das an dessen Ausgang liegt. Die Schwester trug einen großen, starken festgenähten Bettüberzug, und der Bruder sagte zu ihr: "Hin trägst du ihn, her trage ich ihn"; nämlich den Bettüberzug. In Wiesberg gingen die Geschwister zu einem reichen Bauer, und der fragte gleich, was sie denn mit dem Bettüberzug machen wollten.
"Korn kaufen, hineinfassen, heimtragen", war die Antwort. "Was?" rief der Bauer, "diesen Bettüberzug voll Korn und sieben Stunden tragen? Ihr? Wenn ihr das ohne fremde Hilfe und ohne zu ruhen vermögt, so schenk' ich euch den Roggen!"
Das war dem Christli und seiner Schwester recht, sie ließen den Bettsack vollfüllen und wanderten den sieben Stunden langen Weg zurück. Christli trug die ungeheure Last. Der Verkäufer ging hintendrein, er fürchtete nicht, daß er so mir nichts, dir nichts um sein Getreide kommen werde, aber er schwitzte sehr, denn die Geschwister schritten rasch und ruhten nirgends. Schon waren Langetsthei, Kappel und Ulmich durchschritten, die Geschwister ruhten immer noch nicht, der Bauer aber wurde müde, hungrig, durstig. Da kamen die Wanderer an einem Wäldchen vorüber, an dessen Saum viele Haselnüsse wuchsen. Zu diesen schritt Christli und hüpfte mit seiner schweren Kornlast in die Höhe nach einem vollen Zweige, bog ihn nieder und pflückte für sich und die Schwester nach Herzenslust. "O weh!" seufzte der Bauer, kratzte sich hinterm Ohr und wandte sich trauernd um - sein Korn war dahin, er mochte nicht weiter folgen.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben
von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 214.