DIE ARME SEELE
In einem Walde des Dorfes Lahntal, unweit Wörgl, wo das kurze Lahntal in das Unterinntal heraustritt, war einst ein armer Holzhauer beschäftigt, der ebenso fromm als heiteren Sinnes war, Jedermann bot er mit fröhlicher Miene den frommen Weggruß: "Gelobt sei Jesus Christus!" und tat das zum Heile der armen Seelen; wenn ihm aber ein Wanderer darauf nicht antwortete, so rief der Holzhauer wohl manchmal spottend aus: "Wo willst du hin, verlorene Seel'? Bist du vielleicht ein Juhuhud?" Bei seiner Arbeit pfiff und sang der Holzhauer, daß es gar lustig durch den Wald hin schallte. Es kam die Mittagsstunde, der Mann ließ die Axt ruhen, sprach einen Segen und begann sein schlichtes Mahl zu verzehren. das aus einem Stück trockenen Brotes bestand, welches er mit dem kühlen Naß einer nahen Quelle befeuchtete, aus der er mit hohler Hand schöpfend seinen Durst löschte. Da vernahm er nahe bei sich ein tiefes Seufzen. Er horchte auf es seufzte noch einmal. "Gelobt sei Jesus Christus! " rief der Holzhauer - und "In Ewigkeit! " klang es in einem schauervollen Ton zurück -, und zugleich wurde jener einer uralten, verschrumpften zitternden Menschengestalt ansichtig, die so grau war, wie ein bemooster Baumstamm, und seufzend sprach: "Ewigkeit! Ewigkeit!"
"Wer bist du, was willst du?" fragte der Holzhauer.
Die Gestalt seufzte: "Oh, oh! Du konntest mich erlösen und hast es nicht getan. Du hast mich nicht richtig besprochen. Siehe nur - diese Tanne hier am Boden, gefällt von deiner Hand - wie sie Zapfen trägt! Aus einem dieser Zapfen muß ein Samenkorn fallen, Wurzel schlagen, Baum werden, stark werden, gefällt werden, Wiege daraus gezimmert werden - und erst das Kind, das in dieser Wiege gewiegt wird, erst das kann mich erlösen. So lange muß ich Pein leiden - so lange noch, oh, so lange - oh Ewigkeit!" Mit diesen Worten verschwand die Gestalt, und den Holzhacker schauerte es. Er pfiff Lind sang lange nicht wieder, aber er sprach jeden Tag mehr als ein Vaterunser zum Heile der armen Seelen und dadurch zu seinem eigenen Seelenheile.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben
von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 34