D' Seel' sitzt im Kopf
Vier Wildschützen von Bieberwir gingen in den dreißiger Jahren ins bayrische Grenzgebirge Gemsen wildern, wendeten sich gegen Buchloe und stiegen eine Abdachung hinab auf bayrischen Boden. Wie sie langsam vorschlichen, erblickten sie auf einmal über sich in Legföhren versteckt bayrische Revierjäger, welche Miene machten, sie abzufangen. Daher liefen sie, so schnell sie konnten, davon und hörten wohl, daß ihnen Schüsse nachgesendet wurden.
Als sich die Wildschützen außer dem Bereiche der Gefahr befanden,
waren ihrer nur drei, und so gingen sie ohne den vierten nach Hause, in
der Meinung, daß er versprengt worden und auf anderen Wegen heimkommen
werde. Als derselbe am anderen und auch am dritten Tage nicht kam, ahnten
jene ein Unglück und gingen vorsichtig aus, ihn zu suchen. Sie fanden
ihn durch die Brust geschossen und tot in seinem Blute liegen, der Rasen
war rundherum mit den Fingern aufgerissen, jedenfalls im Todeskampfe.
Sie legten ihren unglücklichen Kameraden unter einen dürren
Baum, deckten ihn mit Gesträuch zu und sagten seiner hinterlassenen
Witwe mit sieben unmündigen Kindern den Trauerfall an. Nach acht
Tagen gingen die Wildschützen abermals zu dem Leichnam und nahmen
dessen Kopf mit, welcher zu Bieberwir in den Friedhof gelegt und eingesegnet
wurde: denn das tröstetete allein die armen Hinterlassenen, weil
auch dort der Kopf als Wohnung der Seele und als das Kostbarste am Leibe
betrachtet wird, wie es an andern Orten des Landes der Fall ist. Den Leichnam
ließen sie liegen, legten auf die Reiser, mit denen er zugedeckt
war, noch Steine in Pyramidenform aufeinander und hingen seinen Jägerhut
mit Hahnenfeder und Gemsbart auf den Gipfel des alten dürren Baumes
- das war das Grabmal des Wilderers, und so blieb es lange Zeit. Die Sache
wurde ruchbar, das Landgericht veranlaßte im Einverständnis
mit dem bayrischen eine Untersuchung; man konnte aber nichts Genaueres
erfahren, als was hier erzählt worden; doch wird jedesmal beigesetzt,
daß man darum den Kopf im geweihten Friedhof begrub, damit dem Geiste
des Wilderers die ewige Ruhe gegeben werden könne, da er sonst vielleicht
wandeln müßte; denn "d' Seel' sitzt im Kopf"!
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 142