Das beste Gebet
Im Dorfe Heiterwang, eine Stunde von Reutte entfernt, lebte ein armer
junger Geißhirt. Er war sehr fromm erzogen, daher betete er vor
jeder Kapelle oder vor jedem Marterl das Vaterunser. Er machte es aber
gewöhnlich so: Er nahm seinen mit Waldblumen gezierten Hut vom Kopf,
warf die etlichen Blumen hinein und betete in den Hut hinein die Vaterunser;
schnell vermehrten sich die Blumen, und er betete fort, bis der Hut voll
wurde; dann schloß er das Gebet mit den Worten "und für
das ganze himmlische G'schwader", leerte ihn vor der geweihten Schwelle
aus, und da sah er, wie die armen Seelen um Blumen fast rauften.
So trieb er es lange Zeit fort, bis ihm ein frommer Mann aus der Gegend
sagte, er wisse ein noch fürnehmeres Gebet für die armen Seelen.
Das lernte der Knabe und betete dasselbe in den Hut hinein. Allein der
Hut wurde nicht voll, er mochte das neue Gebet versuchen, sooft er wollte.
Er ging daher zum frommen Manne und erzählte ihm das. Der Mann wunderte
sich und gab ihm den Rat, er solle also das alte Vaterunser wieder beten,
und als er das getan, geschahen die Blumenwunder wie anfangs. Seitdem
erkannten die Leute, daß das Vaterunser das beste Gebet sei.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 149
Siehe auch Das beste Gebet (Allgäu)