Der heilige Baum
Dreiwipflige Tannen oder Lärchen sind in
der Sagenwelt
Bedeutungsträger,
dieses schöne Exemplar steht am Heiligbaumboden
© Berit
Mrugalska, 17. September 2004
In der alten Heidenzeit stand bei Nauders eine hohe und stattliche Lärche oder, wie man in Tirol sagt: ein "Larchbaum", der war dem umwohnenden Volke heilig; man betete unter ihm an einem Steinaltar zu den Göttern, die Priester saßen unter ihm zu Gericht, keine Hand durfte den Baum schädigen, und in seiner Nähe verbrannte man die Toten, füllte ihre Asche in Urnen, setzte diese in Gräbern bei und türmte Hügel über Asche und Gebeine. Das war urgermanischer Kult; auch im Walsertale, welches bei Stafflach ins Wipptal ausmündet, stand ein solcher heiliger Baum, den man lang nach Einführung des Christentums noch ehrte und zu dem man noch im Dreißigjährigen Kriege prozessionsweise wallte, bis der Bischof die "processio annua ad arborem" 1658 verbot und aufhob. Die Christenapostel vertilgten nicht immer diese dem Volke heiligen Bäume und taten daran sehr wohl; sie hingen lieber an die dem Volke einmal hehren Stämme Christus- und Marterbilder auf, und das tauschte dann gern und leicht die alte Verehrung mit der neuen, wenn man ihm nur die uralt gewohnte und geweihte Örtlichkeit ließ, seinem frommen Drange zu folgen. Gar mancher solcher Bäume ward Anlaß zur Erbauung von Kapellen und Kirchen, wie z. B. in Tirol Maria an der Linde (Lindenjungfrau), im Ausland die Wallfahrtskirche zur "Maria im Grimmental" bei Meiningen, wo die 36 Fuß im Umfang klafternde Linde die Kirche überdauert hat, die Wallfahrt "Zur heiligen Linde" in Ostpreußen u. a. m. Der heilige Baum bei Nauders gabelte sich zwieselartig in zwei auseinanderstrebenden Stämmen hoch empor und war so verehrt vom Volke, daß es sich in seiner Nähe alles Zankens und Fluchens enthielt, in seiner Nähe kein Holz fällte, da die Sage ging, wenn jemand in ihn mit einem Beile hacke, entströme dem Stamme hellichtes Blut, und der Frevler haue sich obendrein selbst in das Bein. Einem geschah dies; selbst von den Ästen träufelte Blut auf ihn herab, und man fand ihn für tot unter dem Baume liegen. Erst am ändern Tage kam er wieder zu sich, fühlte aber lange Schmerz wie von einer tiefen Wunde, der erst nachließ, als der Axthieb im Baume verharschte.
Wegweisertafel "Heiligbaumboden" 1620 m
© Berit
Mrugalska, 17. September 2004
Auch sagten, wenn ein Kind geboren wurde, die Eltern und Geschwister den Kleinen: "'s Kindl ist vom heiligen Baume", denn daß der Storch die neugeborenen Kinder bringe, wie man in Deutschland zu sagen pflegt, sagt man in Tirol nicht. Besonders die Büblein sollten von dem heiligen Baume kommen, deswegen sehen nun die Kleinen in jedem Lärchbautnzapfen künftige Geschwister, nach denen sie um alles in der Welt nicht werfen dürfen.
Heiligbaumboden, Nauders
© Berit
Mrugalska, 17. September 2004
Aber leider steht jetzt vom heiligen Baume bei Nauders nur noch der Strunk, denn der Grundbesitzer, dessen Name wohlbekannt immerhin in die Vergessenheit übergehen möge, hat ihn vor wenigen Jahren sonder Scheu umgehauen und Zeugnis abgelegt von der rohen Bauernnatur, die sich nur um ihren Geldvorteil und um nichts Altehrwürdiges mehr kümmert und nicht nur in Tirol, sondern in ganz Deutschland ihren unblutigen Bauernkrieg siegreich fortführt.
Panorama vom Heiligbaumboden gen Westen, Nauders
© Berit
Mrugalska, 17. September 2004
Viehtrog am Heiligbaumboden, Nauders
© Berit
Mrugalska, 17. September 2004
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 231.