Der Hellseher im Alpbachtale
Zu Mayrhofen bei Reith, am Eingang ins Alpbachtal, lebte in den dürftigsten
Verhältnissen ein armer Blödsinniger, der "Stöger
Jakail" (Jakob Stöger). Aus Mitleid gaben die Bauern der Umgegend
ihm einfache Taglohnarbeit. Obschon der Jakail blödsinnig war, so
war er doch stets munter, sang auf seine Weise manch lustiges Lied und
trug seine Armut ohne Klage, weil er einen besseren Zustand nicht kannte.
Zu gleicher Zeit lebte in Fügen, im nachbarlichen Zillertal, ein
Richter vom schlimmsten Ruf und Leumund, der aber klug war, und vieles
in die Zukunft hinein berechnen konnte; nur um seine eigene Zukunft konnte
oder wollte er sich nicht bekümmern. Und als der Richter gestorben
war, erkannten die Fügener sogleich, daß ihm Sankt Petrus die
Himmelspforte nicht geöffnet habe, denn bald genug verbreitete sich
nach dessen Tod durchs Ziller- und Alpbachtal die allgemeine Sage, daß
des Richters Seele zur Strafe seiner Übeltaten verurteilt worden
sei, gleichsam in einen Teufel verwandelt, in den blöden, schmutzigen
Jakail zu fahren und in dessen elendem Leib zu wohnen, denn - der Stöger
Jakail war plötzlich Hellseher geworden, auch fand dieses Gerücht
dadurch eine Art Bestätigung, daß am Jakail ein seltsames schußweises
Aufspringen zur Erscheinung kam. Also wurde auf einmal der Stöger
Jakail frisch, sprang und schwang seinen Hut, erzählte den Leuten
tief hinten im Tale, was eben jetzt weit weg geschah, wovon man weder
etwas sehen noch hören konnte, und es war jedesmal wirklich so, wie
er sagte. Aber jodeln und singen, das er früher so gerne geübt,
das war von nun an bei ihm wie fortgeblasen. Von seinem Hellsehen werden
viele unglaublich lautende Stücklein erzählt; unter andern hatten
einst die Söhne und Knechte vom "Schönerhof" nach
dem Umackern die Steine in einen Korb gesammelt, welche Jakail zu einem
Gatterl oder Stiegele beim Zaun zu tragen und auf einen Haufen zu werfen
hatte. Da erfaßte ihn auf einmal der seltsame Zustand mit Hüpfen;
er riß sich das Hütlein vom Kopfe und hielt es mit beiden Händen
rückwärts hinab und rief: "Oje! Z' Hall in der Fassergassen
brinnt's!" Darauf arbeitete er fort, und die Umstehenden lachten
ihn aus. Aber es brannte wirklich in der Fassergasse zur gleichen Stunde.
Ein anderes Mal hatten einige Bauern zu Mayrhofen "Holz vergoaselt",
das ist im Winter auf einem Bergschlitten, den man die Goas (Geise) nennt,
Holz zu Tal geführt. Während dieser Zeit schlich ein Knecht
ins Haus, stahl ein Stück Butter und aß sie später vor
den andern, denen er weismachte, daß er sie geschenkt erhalten habe.
Allein der Jakail bekam seine Zustände und rief: "He! lazt galt
[gibt] anuiaDoip [Dieb] Seg'nmit an Stuck Buttar!" Der Butterdieb
wurde feuerrot im Gesicht und wich dem Jakail später aus, wo er ihm
begegnete. Einmal schrie der Jakail auf: "lazt hot's d' z' Silberbergs
Roß g'fuhlt und an Ascht'rkrisn hot's d'rwusch'n! [Jetzt hat des
Silberbergers Roß gefohlt, welches einen Osternstern bekommen hat.]"
Und wirklich hatte die Stute ein Pferd gefohlt, das einen schönen
weißen Stern auf der Stirne hatte.